Entscheidungsstichwort (Thema)

Änderung eines gerichtlichen Geschäftsverteilungsplans

 

Leitsatz (NV)

Das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) wird durch eine Änderung der Geschäftsverteilung verletzt, bei der (ohne Abgrenzung anhand allgemeiner und objektiv nachprüfbarer Merkmale) einzeln ausgesuchte anhängige Verfahren einem anderen Senat des FG zur Entscheidung zugewiesen werden.

 

Normenkette

FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 116 Abs. 6, § 119 Nr. 1; GVG § 21e; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2

 

Verfahrensgang

Sächsisches FG (Urteil vom 27.09.2005; Aktenzeichen 1 K 1502/02)

 

Tatbestand

I. Das der Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) vorangegangene Klageverfahren war im Jahre 2002 beim vierten Senat des Finanzgerichts (FG) anhängig. Im Dezember 2002 beschloss das Präsidium des FG, im Geschäftsverteilungsplan für das Jahr 2003 die Entscheidungszuständigkeit für das Klageverfahren der Kläger und ein weiteres Verfahren auf den ersten Senat des FG zu übertragen. Durch sein im Jahre 2005 ergangenes Urteil wies dieser die Klage ab.

Mit ihrer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision rügen die Kläger u.a. das Vorliegen eines Verfahrensmangels i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der erste Senat des FG habe zu Unrecht über die Klage entschieden; er sei nicht zuständig gewesen.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Beschwerde ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 FGO).

1. Die Revision ist gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO zuzulassen. Das Urteil der Vorinstanz beruht --wie die Kläger zutreffend geltend machen-- auf einem wesentlichen Verfahrensmangel i.S. von § 119 Nr. 1 FGO, weil das FG bei seiner Entscheidung nicht vorschriftsmäßig besetzt war. Ein solcher Verfahrensmangel ist u.a. gegeben, wenn durch eine die Besetzung des erkennenden Gerichts betreffende Maßnahme zugleich Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) verletzt, d.h. der gesetzliche Richter entzogen ist (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 14. November 1995 VIII R 3-5/95, BFH/NV 1996, 481, unter II. 1., m.w.N.). Diese Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt.

a) "Erkennendes Gericht" i.S. des § 119 Nr. 1 FGO ist das Gericht in der Besetzung bei der abschließenden Entscheidung. Maßgebend für die Ordnungsmäßigkeit der Besetzung des Spruchkörpers ist der für diesen Zeitpunkt geltende Geschäftsverteilungsplan des Gerichts; er regelt konstitutiv auch die Zuständigkeit des Spruchkörpers für bereits anhängige Sachen (z.B. BFH-Urteil in BFH/NV 1996, 481; vgl. auch BFH-Beschluss vom 14. November 1995 VIII R 84/93, VIII R 1/94, BFH/NV 1996, 416, m.w.N.). Denn der Geschäftsverteilungsplan --einschließlich etwaiger Änderungen-- wirkt nur für die Dauer eines Geschäftsjahres (Jährlichkeitsprinzip) und tritt an dessen Ende ohne weiteres Zutun außer Kraft (z.B. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts  --BVerwG-- vom 30. Oktober 1984  9 C 67/82, DVBl 1985, 574, m.w.N.).

b) § 21e Abs. 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes verbietet es nicht, durch den jährlichen Geschäftsverteilungsplan bereits anhängige Sachen einem anderen Spruchkörper zuzuweisen als dem, bei dem sie im Zeitpunkt ihres Einganges anhängig geworden sind (z.B. BFH-Beschluss in BFH/NV 1996, 481, m.w.N.; BVerwG-Urteil vom 18. Oktober 1990  3 C 19/88, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1991, 1370). Hierbei ist jedoch --wie bei der Verteilung der Geschäfte allgemein-- das Abstraktionsprinzip (s. dazu z.B. BVerwG-Urteil in NJW 1991, 1370; Kissel, Gerichtsverfassungsgesetz, 4. Aufl., § 21e Rz. 94) zu beachten. Der jeweilige Geschäftsverteilungsplan muss die Aufgaben nach allgemeinen, abstrakten und objektiven Merkmalen (d.h. nicht speziell, sondern generell) verteilen. Dies schließt zwar nicht aus, bereits anhängige, neu zu verteilende Sachen --soweit notwendig-- in gewissem Umfang zu konkretisieren. Keinesfalls dürfen aber einzelne ausgesuchte Sachen einem anderen Spruchkörper zugewiesen werden (z.B. BFH-Beschluss in BFH/NV 1996, 416; BFH-Urteil in BFH/NV 1996, 481, jeweils m.w.N.; vgl. auch Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Februar 2005  2 BvR 581/03, Beilage 4 zu BFH/NV 2005, 367; BVerwG-Urteile vom 29. Juni 1984  6 C 35/83, DVBl 1985, 165, und in NJW 1991, 1370); geschieht dies dennoch, wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt (BVerfG in Beilage 4 zu BFH/NV 2005, 367).

2. Aus dem im Zeitpunkt der Entscheidung geltenden Geschäftsverteilungsplan des FG für das Jahr 2005 lässt sich für das vorliegende Verfahren die Zuständigkeit des ersten Senats des FG nicht begründen. Denn die Regelung, wonach die sachliche Zuständigkeit des ersten Senats des FG für "alle Verfahren, die am 31. Dezember 2004 im ersten Senat anhängig waren" gegeben ist (Abschnitt B, 1. Senat, III. b des Geschäftsverteilungsplans des FG für 2005), kann den in der ursprünglichen Zuweisung zweier einzeln ausgewählter Verfahren liegender Verstoß gegen das Abstraktionsprinzip nicht heilen; vielmehr wird dieser Verstoß perpetuiert.

3. Der Verfahrensfehler hat zur Folge, dass die Vorentscheidung ohne sachliche Nachprüfung aufzuheben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen ist (§ 116 Abs. 6 FGO). Die im Ermessen des BFH stehende Zurückverweisung ist insbesondere dann sinnvoll, wenn die Vorinstanz unter Verstoß gegen die Vorschriften über die Besetzung des Gerichts entschieden hat (z.B. BFH-Beschluss vom 24. Februar 2005 VIII B 216/03, BFH/NV 2005, 1328, m.w.N.).

 

Fundstellen

Haufe-Index 1560803

BFH/NV 2006, 1873

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