Entscheidungsstichwort (Thema)

Sachentscheidung bei fehlerhaft unterlassener Aussetzung des Verfahrens als Verfahrensmangel - Anhängigkeit einer Verfassungsbeschwerde als Aussetzungsgrund i.S. des § 74 FGO - Definition: Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO

 

Leitsatz (amtlich)

1. Es ist ein Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens, wenn ein FG eine Sachentscheidung trifft, obwohl es das Klageverfahren gemäß § 74 FGO hätte aussetzen müssen.

2. Eine Aussetzung des Verfahrens gemäß § 74 FGO durch das FG kommt jedenfalls dann in Betracht, wenn wegen der gleichen Rechtsfrage beim BVerfG eine Verfassungsbeschwerde anhängig ist.

 

Orientierungssatz

Ein Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO ist ein Fehler, den das FG bei der Handhabung seines Verfahrens begeht, sofern durch diese falsche Behandlung der materielle Inhalt seiner Entscheidung beeinflusst sein kann.

 

Normenkette

FGO §§ 74, 115 Abs. 2 Nr. 3; AO 1977 § 363; BVerfGG § 31 Abs. 2 Sätze 1-2; EStG § 32b Abs. 1 Nr. 1

 

Gründe

Gründe

Die Beschwerden sind begründet. Die Vorentscheidungen beruhen auf einem Verfahrensfehler, der dem Finanzgericht (FG) unterlaufen ist (§ 115 Abs.2 Nr.3 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―). Deshalb waren die Revisionen zuzulassen.

1. Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) stützen ihre Rüge, dem FG sei ein Verfahrensfehler unterlaufen, auf das Vorbringen, das FG habe die Klagen am 23.Februar 1990 nicht abweisen dürfen, sondern habe die Sachentscheidungen über die Verfassungsmäßigkeit des § 32b Abs.1 Nr.1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) über die Verfassungsbeschwerde 1 BvR 1176/88 offenhalten müssen. In diesem Vorbringen liegt die schlüssige Behauptung eines Verfahrensfehlers.

a) Ein Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs.2 Nr.3 FGO ist ein Fehler, den das FG bei der Handhabung seines Verfahrens begeht, sofern durch diese falsche Behandlung der materielle Inhalt seiner Entscheidung beeinflußt sein kann. In diesem Sinne stellt es nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 12.November 1985 IX R 85/82, BFHE 145, 308, BStBl II 1986, 239, m.w.N.) einen Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens (*= Verfahrensfehler) dar, wenn ein FG eine Sachentscheidung trifft, obwohl es das Klageverfahren gemäß § 74 FGO hätte aussetzen müssen. Zwar machen die Kläger auch geltend, das FG habe alternativ mit der Terminierung der Sache abwarten und die Verfahren auf diese Weise faktisch ruhen lassen können. Diese alternative Möglichkeit verändert jedoch die Annahme eines Verfahrensfehlers in ihrem Kern nicht. Dieser bestand darin, daß das FG Sachentscheidungen zu einem Zeitpunkt fällte, zu dem ihnen noch ein Hindernis entgegenstand.

b) Zwar ist die Entscheidung, das Klageverfahren gemäß § 74 FGO auszusetzen, eine Ermessensentscheidung des FG. Ausnahmsweise können aber die besonderen Umstände des Einzelfalles das FG zu einer Aussetzung des Verfahrens zwingen. Waren dem FG im Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Aussetzung des Verfahrens sprechenden Umstände bekannt und nahm es dennoch einen Ermessensspielraum an, der in Wirklichkeit nicht bestand, so beruht die Ablehnung der Aussetzung des Verfahrens auf Ermessensfehlgebrauch. Sie ist rechtswidrig und als solche ein Verfahrensfehler.

aa) Nach § 74 FGO kann das FG, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, daß die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde ausgesetzt wird. Zu dieser Vorschrift hat der erkennende Senat wiederholt die Auffassung vertreten (vgl. BFH-Urteil vom 18.Juli 1990 I R 12/90, BFHE 161, 409, BStBl II 1990, 986, m.w.N.), die vorgreifliche Entscheidung bzw. Feststellung müsse für das auszusetzende Verfahren nicht bindend sein. Es genüge, daß das andere Verfahren irgendwie rechtlichen Einfluß auf das auszusetzende Verfahren nehme. Demgegenüber vertreten der III.Senat (vgl. Beschluß vom 7.Oktober 1977 III B 8/77, Steuerberater 1979, 38; Urteil vom 8.Juni 1990 III R 41/90, BFHE 161, 1, BStBl II 1990, 944) und der VI.Senat des BFH (vgl. Beschluß vom 21.August 1986 VI B 91/85, BFH/NV 1987, 43) einschränkend die Auffassung, ein sog. Musterprozeß sei kein vorgreifliches Rechtsverhältnis i.S. des § 74 FGO. Die Entscheidung in dem anhängigen Verfahren müsse dasselbe Rechtsverhältnis betreffen oder rechtslogisch vom Bestehen oder Nichtbestehen des in dem anderen Verfahren anhängigen Rechtsverhältnisses abhängen. Es kann unentschieden bleiben, ob die genannten Entscheidungen miteinander in Einklang stehen. Im Streitfall besteht die Besonderheit darin, daß der "Musterprozeß" in einer Verfassungsbeschwerde besteht, die beim BVerfG anhängig ist. Die Entscheidung des BVerfG über eine Verfassungsbeschwerde hat jedenfalls dann Gesetzeskraft, wenn das BVerfG ―wie in dem Verfahren 1 BvR 1176/88 angestrebt― ein Gesetz als mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig erklärt (§ 31 Abs.2 Satz 2 i.V.m. § 13 Nr.8 Buchst.a des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht ―BVerfGG―). Ist eine entsprechende Entscheidung des BVerfG ergangen, bindet sie auch das FG bei seiner Entscheidung über den Streitfall (vgl. Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, Gesetz über das Bundesverfassungsgericht, § 31 Rdnr.28 ff.). In diesem Sinne betrifft die vom BVerfG in dem Verfahren 1 BvR 1176/88 zu treffende Entscheidung auch das Rechtsverhältnis, über das im Streitfall zu entscheiden ist. Die vom BVerfG zu treffende Entscheidung hat damit rechtslogisch unmittelbaren Einfluß auf die Entscheidung über den Streitfall, solange diese noch nicht unanfechtbar und der angegriffene Steuerbescheid noch nicht vollzogen ist (§ 95 i.V.m. § 79 Abs.2 BVerfGG). Folglich hätte das FG das bei ihm anhängige Klageverfahren aussetzen können.

bb) Die Möglichkeit, das Klageverfahren gemäß § 74 FGO auszusetzen, bedeutet für sich genommen allerdings noch nicht die Verpflichtung des FG, entsprechend zu verfahren. Grundsätzlich kann das FG, das seine Vorlagepflicht nach Art.100 Abs.1 GG verneint, die Verfassungsmäßigkeit eines formell ordnungsgemäß erlassenen Gesetzes vermuten (vgl. BFH-Urteil vom 13.Januar 1966 IV 324/65, BFHE 84, 548, BStBl III 1966, 199; vom 14.November 1989 IX R 197/84, BFHE 158, 546, BStBl II 1990, 299). Auch kann die eingelegte Verfassungsbeschwerde nach Auffassung des FG offensichtlich unbegründet sein und ausschließlich der Prozeßverschleppung dienen. Schließlich können sachliche Gründe dafür sprechen, einen weiteren "Musterprozeß" an das BVerfG heranzutragen, um auf diese Weise die in tatsächlicher Hinsicht unterschiedlich gelagerte Problematik zu verdeutlichen.

Der Streitfall ist jedoch anders gelagert. Das FG hat die Klagen der Kläger nicht ausdrücklich als offensichtlich unbegründet angesehen. Eine solche Wertung läßt sich weder den Entscheidungsgründen noch der Bezugnahme auf das BFH-Urteil vom 29.April 1988 VI R 74/86 (BFHE 153, 363, BStBl II 1988, 674) entnehmen. Vor allem aber handelt es sich bei dem Streitfall um eines von zahlreichen Parallelverfahren (Massenverfahren), die in tatsächlicher Hinsicht praktisch gleichgelagert sind. Die Verfassungsbeschwerde 1 BvR 1176/88 wird als Musterprozeß geführt. Das Herantragen der übrigen Parallelverfahren an das BVerfG macht nicht zuletzt mit Rücksicht auf § 31 Abs.2 Sätze 1 und 2 BVerfGG keinen Sinn. Das Vorgehen des FG bedeutet deshalb, daß alle Kläger in den entschiedenen Parallelverfahren gezwungen werden, ihrerseits gegen die jeweilige Entscheidung des FG Rechtsbehelf bzw. Verfassungsbeschwerde einzulegen. Im Ergebnis werden damit der BFH bzw. das BVerfG mit einer Vielzahl gleichgelagerter Verfahren "überschwemmt", ohne daß dies der Klärung des vorgreiflichen Rechtsproblems dient. Die Vorgehensweise des FG löst eine Belastung des BFH bzw. des BVerfG aus, die nicht im Interesse des Rechtsfriedens liegen kann und zu Lasten anderer Verfahren geht, deren Entscheidung vernünftigerweise vorrangig ist. Im Interesse der Prozeßökonomie und der Prozeßersparnis ist es gerade der Sinn des § 74 FGO, dem Gericht die Möglichkeit an die Hand zu geben, die rechtslogisch vorgreifliche und anderweitig zu treffende Entscheidung abzuwarten. Dann aber muß das Gericht von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, wenn die Vielzahl der andernfalls zu erwartenden Rechtsbehelfe für und praktisch kein vernünftiger Gesichtspunkt gegen die Aussetzung des Verfahrens spricht.

cc) Im Streitfall sprach für die Aussetzung der Verfahren durch das FG auch die Tatsache, daß sie noch in den mündlichen Verhandlungen von den Klägern sinngemäß beantragt worden war. Zwar widersprach der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ―FA―) der Verfahrensaussetzung. Auf dessen Widerspruch kann es aber nicht ankommen, weil schützenswerte Interessen des FA nicht zu erkennen sind. Die Aussetzung des Verfahrens bedeutet auch insbesondere keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung (Chancengleichheit). Die FG sind zwar auch in anderen Verfahren gehalten, die Chancengleichheit zu beachten. Dies muß jedoch nicht immer durch Aussetzung des Verfahrens gemäß § 74 FGO geschehen. Häufig genügt es, den Kläger auf eine bestimmte "Chance" hinzuweisen. Beantragt er dennoch keine Verfahrensaussetzung, so muß diese auch nicht von Amts wegen verfügt werden. Häufig wird die Anregung des FG beim FA ausreichen, den angefochtenen Steuerbescheid in dem Punkt, in dem die Chancengleichheit verletzt sein könnte, für vorläufig zu erklären (§ 165 Abs.1 der AbgabenordnungAO 1977―). Es kann auch von Bedeutung sein, ob wegen weiterer streitiger Rechtsfragen voraussichtlich ohnehin ein weiterer Rechtsbehelf geführt werden wird, innerhalb dessen eine Berücksichtigung nach Klärung der vorgreiflichen Frage möglich erscheint. Schließlich kann das FG in einschlägigen Verfahren auch gemäß § 100 Abs.2 Satz 2 FGO verfahren und den Steuerbescheid und die Einspruchsentscheidung wegen Verstoßes gegen § 363 AO 1977 aufheben, ohne eine Sachentscheidung zu treffen. Die Beschäftigungslage des FG ist demgegenüber jedenfalls solange ohne Bedeutung, als tatsächlich noch genügend Fälle zur Entscheidung anstehen.

2. Im Streitfall entspricht das Vorbringen der Kläger in den Begründungen ihrer Nichtzulassungsbeschwerden dem tatsächlichen Geschehen, wie es sich insbesondere aus den FG-Akten und den Protokollen über die mündliche Verhandlung ergibt. Deshalb liegt der behauptete Verfahrensfehler tatsächlich vor (vgl. BFH- Beschluß vom 31.Januar 1968 I B 60/67, BFHE 91, 348, BStBl II 1968, 351). Dabei geht der Senat davon aus, daß bezüglich eines Verfahrensfehlers keine Bindung an die tatsächlichen Feststellungen des FG besteht (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2.Aufl., § 118 Rdnr.37 m.w.N.).

3. Die Vorentscheidungen können auch auf dem Verfahrensfehler beruhen. Hätte das FG den Verfahrensfehler nicht begangen, dann hätte es die Verfahren aussetzen müssen und die angefochtenen Urteile nicht erlassen dürfen.

4. Sind die Revisionen schon aus Gründen des § 115 Abs.2 Nr.3 FGO zuzulassen, so bedarf es keiner Entscheidung darüber, ob auch die Voraussetzungen des § 115 Abs.2 Nr.1 FGO erfüllt sind.

 

Fundstellen

Haufe-Index 63543

BStBl II 1991, 641

BFHE 164, 194

BB 1991, 1923-1925 (LT)

DStR 1991, 1048 (KT)

HFR 1991, 597 (LT)

StE 1991, 256 (K)

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