Leitsatz (amtlich)

Sind Revisions- und Revisionsbegründungsfrist wegen eines Fehlers bei der Zustellung der Vorentscheidung nicht in Lauf gesetzt worden, kann nach Ablauf eines Jahres die Rechtsmittelbefugnis verwirkt sein.

 

Normenkette

FGO § 120 Abs. 1; VwZG § 5 Abs. 2

 

Tatbestand

Der Rechtsstreit befindet sich im zweiten Rechtsgang.

Das Urteil des FG vom 7. Mai 1974 war dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) am 18. Juni 1974 gegen Empfangsbekenntnis zugesandt worden (§ 5 Abs. 2 VwZG). Der Prozeßbevollmächtigte hatte das Empfangsbekenntnis unterschrieben an das FG zurückgeschickt (Eingang am 28. Juni 1974), ohne jedoch das Empfangsdatum ausgefüllt zu haben. Am 3. Juli 1974 legte er Revision gegen die Vorentscheidung ein. Die Frist für die Revisionsbegründung wurde antragsgemäß bis 2. September 1974 verlängert. Mit Schreiben vom 16. September 1974 beantragte der Prozeßbevollmächtigte eine weitere Fristverlängerung bis zum 30. September 1974. Die Revisionsbegründung ist bis zum heutigen Tage nicht eingegangen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unzulässig, da sie nicht begründet worden ist (§ 120 Abs. 1 FGO).

Der erkennende Senat kann es dahingestellt sein lassen, ob die Wirksamkeit der Zustellung als solche durch das Fehlen der Datumsangabe auf dem von dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers unterschriebenen Empfangsbekenntnis berührt wird (für Unwirksamkeit der Zustellung die Rechtsprechung des BGH zu § 198 Abs. 2 der ZPO, z. B. Urteil vom 14. Juni 1961 IV ZR 56/61, BGHZ 35, 236 [238], anderer Ansicht Urteil des BVerwG vom 7. Januar 1972 IV C 41/70, NJW 1972, 1435, HFR 1972, 321; unentschieden Bundessozialgericht im Urteil vom 28. Mai 1974 2 RU 259/73, NJW 1974, 1727 mit weiteren Hinweisen). Selbst wenn ein wesentlicher Zustellungsmangel anzunehmen wäre, würde die Wirksamkeit der Vorentscheidung selbst dadurch nicht in Frage gestellt. Der Prozeßbevollmächtigte hat das Urteil tatsächlich erhalten, wie sich aus dem zurückgesandten Empfangsbekenntnis und der eingelegten Revision ergibt. Eine fehlerhafte Zustellung hat dann lediglich zur Folge, daß die Revisionseinlegungsfrist und die Revisionsbegründungsfrist nicht zu laufen beginnen (vgl. z. B. Urteile des BFH vom 9. September 1970 I R 113/69, BFHE 100, 179, BStBl II 1971, 9, und vom 18. Dezember 1974 I R 14/74, BFHE 115, 170, BStBl II 1975, 592, ebenso Beschluß vom 3. Oktober 1972 VII B 152/70, BFHE 107, 163, BStBl II 1973, 84, mit weiteren Hinweisen).

Auch in diesem Fall kann nicht zeitlich unbegrenzt von der Rechtsmittelbefugnis Gebrauch gemacht werden. Nach der Rechtsprechung des BVerfG, des BFH und anderer oberster Gerichtshöfe des Bundes unterliegen auch prozessuale Befugnisse der Verwirkung (BVerfG-Beschluß vom 26. Januar 1972 2 BvR 255/67, BVerfGE 32, 305, BStBl II 1972, 306; BFH-Urteil vom 14. Juni 1972 II 149/65, BFHE 106, 134, und BFH-Beschluß I R 14/74; Urteil des BSG vom 29. Juni 1972 2 RU 62/70, NJW 1972, 2103; Urteil des Bundesarbeitsgerichts - BAG - vom 2. November 1961 2 AZR 66/61, Hueck-Nipperdey-Dietz, Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts, Arbeitsrechtliche Praxis Nr. 1 zu § 242 BGB "Prozeßverwirkung"). Die verspätete Geltendmachung einer prozessualen Befugnis verstößt gegen Treu und Glauben, wenn der Berechtigte unter Verhältnissen untätig bleibt, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflegt (BVerfG-Beschluß 2 BvR 255/67). Dann können die übrigen Beteiligten und die für die Entscheidung zuständigen Gerichte oder Behörden im allgemeinen nach Ablauf eines Jahres von dem Zeitpunkt an, in dem die Frist zur Ausübung einer prozessualen Befugnis bei fehlerfreier Bekanntgabe zu laufen begonnen hätte, darauf vertrauen, daß die Befugnis nicht mehr geltend gemacht werden soll (vgl. BFH-Urteile I R 14/74 und II 149/65 mit weiteren Hinweisen). Diesen Zeitraum hat der Gesetzgeber in den vergleichbaren Fällen einer fehlenden oder unzutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung zur Ausübung prozessualer Rechte eingeräumt (z. B. § 55 Abs. 2 FGO, § 58 Abs. 2 VwGO, § 237 Abs. 2 AO). Außerordentliche Hinderungsgründe sind im Streitfall nicht ersichtlich und nicht vorgetragen. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat mehrfach beantragt, die Revisionsbegründungsfrist zu verlängern, seit seinem Schreiben vom 16. September 1974 jedoch keine weitere Äußerung abgegeben, obwohl er in dem Schreiben des Senatsvorsitzenden vom 18. September 1974 ausdrücklich auf die Möglichkeit hingewiesen worden ist, daß die Frist infolge eines Zustellungsmangels nicht in Lauf gesetzt worden sei. Es ist daher billigerweise davon auszugehen, daß der Kläger eine Revisionsbegründung nicht mehr abgeben will oder kann.

 

Fundstellen

Haufe-Index 71589

BStBl II 1976, 194

BFHE 1976, 350

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