Entscheidungsstichwort (Thema)

Gewährung rechtlichen Gehörs bei Überraschungsentscheidung; mangelnde Sachaufklärung

 

Leitsatz (NV)

1. Das Gericht darf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt nicht zur Grundlage seiner Entscheidung machen und damit dem Rechtsstreit eine Wendung geben, mit der ein kundiger Beteiligter nicht rechnen muß. Grundsätzlich ist auch das Vertrauen auf eine vom FG im Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung geäußerte Ansicht nicht geschützt.

2. Zur Rüge, das FG habe seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts verletzt.

 

Normenkette

FGO §§ 76, 96 Abs. 2, § 115 Abs. 2 Nr. 3; GG Art. 103 Abs. 1

 

Gründe

Die Beschwerde ist unzulässig.

Die Beschwerdeschrift erfüllt nicht die Anforderungen, die §115 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) an die Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde stellt. Nach dieser Vorschrift muß bei einer auf einen Verfahrensmangel gestützten Nichtzulassungsbeschwerde in der Beschwerdeschrift der Verfahrensmangel bezeichnet werden. Hierzu sind die Tatsachen einzeln, genau und bestimmt anzuführen, die den Mangel ergeben sollen. Weiter ist darzutun, daß das finanzgerichtliche Verfahren auf diesen Mängeln beruht, d. h. aufzuzeigen, daß das Finanzgericht (FG) ohne den Verfahrensmangel anders entschieden hätte. Hierbei ist von der materiell-rechtlichen Auffassung des FG auszugehen (Beschluß des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 4. März 1992 II B 201/91, BFHE 166, 574, BStBl II 1992, 562).

Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) hat den geltend gemachten Verfahrensmangel einer Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör (§96 Abs. 2 FGO, Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes -- GG --) nicht schlüssig gerügt. Rechtliches Gehör wird den Beteiligten dadurch gewährt, daß sie Gelegenheit erhalten, sich zu dem Sachverhalt zu äußern, der einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden soll. Inwieweit diese Gelegenheit wahrgenommen wird, ist Sache der Beteiligten (vgl. Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., §96 Anm. 33 sowie Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, §96 FGO Tz. 22 b, jeweils m. w. N.). Das Recht auf Gehör bezieht sich vor allem auf Tatsachen und Beweisergebnisse. Doch folgt aus §93 Abs. 1 FGO, wonach der Vorsitzende in der mündlichen Verhandlung die Streitsache tatsächlich und rechtlich zu erörtern hat, daß die Beteiligten auch in rechtlicher Hinsicht vor Überraschungen bewahrt werden sollen (Gräber/von Groll, a. a. O., Anm. 32). Deshalb kommt in besonders gelagerten Fällen eine Verletzung des Rechts auf Gehör in Betracht, wenn das Gericht die Beteiligten nicht auf eine Rechtsauffassung hinweist, die es seiner Entscheidung zugrunde legen will (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts -- BVerfG -- vom 8. Juli 1997 1 BvR 1934/93, Neue Juristische Wochenschrift -- NJW -- 1997, 2305). Das ist z. B. der Fall, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen (oder tatsächlichen) Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht hat und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen muß (BFH-Beschlüsse vom 19. Juli 1996 VIII B 37/95, BFH/NV 1997, 124, und vom 31. Juli 1997 III B 31/95, BFH/NV 1998, 325). Ein Beteiligter darf auch nicht mit einer Tatsachenwürdigung überrascht werden, die von keiner Seite vorausgesehen werden kann (BFH-Beschlüsse in BFH/NV 1997, 124 und BFH/NV 1998, 325). Können die Beteiligten bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt Beweismittel benennen, ist das Gericht grundsätzlich nicht verpflichtet, seine vorläufige Beweiswürdigung während des Verfahrens offenzulegen (BVerfG-Beschluß in NJW 1997, 2305). Regelmäßig besteht somit weder eine umfassende Aufklärungs- oder Hinweispflicht noch eine Pflicht zum allgemeinen Rechtsgespräch. Vielmehr genügt es, daß die Beteiligten die Möglichkeit zur Stellungnahme erhalten (BFH-Urteil vom 21. März 1996 XI R 82/94, BFHE 180, 316, BStBl II 1996, 518, m. w. N.).

Im Streitfall hatte der Kläger ausreichend Gelgenheit, sich zu der Streitsache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu äußern. Er konnte zu den dem Urteil zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen Stellung nehmen und sich auf die möglichen rechtlichen Folgerungen durch das Gericht einstellen. Die Beteiligten hatten nämlich bereits vor der mündlichen Verhandlung den vom Berichterstatter zusammengestellten Sachverhalt übersandt erhalten. Darin war die Feststellung enthalten, daß in der Praxis des Klägers zeitweise auch andere Ärzte tätig waren, die neben dem Kläger zeichnungsberechtigt waren. Außerdem hatte der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt -- FA --) in seinem Schriftsatz vom ... darauf hingewiesen, daß nach seiner Ansicht der Kläger nicht eigenverantwortlich tätig gewesen sei, weil ein Teil der Untersuchungen nicht durch den Kläger, sondern selbständig durch angestellte Ärzte erledigt worden sei. In der mündlichen Verhandlung ist der Prozeßbevollmächtigte des Klägers auf diese Ausführungen ausweislich des Urteils ausdrücklich eingegangen, und zwar insbesondere in bezug auf die Mitarbeit von A als "Partner auf Probe". Unter diesen Umständen ist eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vom Kläger weder dargetan noch sonst ersichtlich.

Etwas anderes folgt auch nicht daraus, daß das FG durch seinen Beschluß vom 18. März 1996 die Vollziehung der angefochtenen Gewerbesteuerbescheide ausgesetzt hatte, und zwar mit der Begründung, unter Berücksichtigung der zeitweilig tätigen Ärzte entfielen auf den Kläger im Jahr 1989 nur 200 und im Jahr 1990 nur 233 Proben pro Tag. Das Vertrauen auf diese im summarischen Verfahren geäußerte Rechtsmeinung des Gerichts ist ohnehin ungeeignet, eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör darzutun (vgl. z. B. BFH-Beschluß vom 31. August 1995 I B 62/95, BFH/NV 1996, 226). Zudem war dem Kläger bekannt, daß das FA seine gegenteilige Auffassung auch darauf stützte, daß die Tätigkeit aller zeitweilig tätigen Ärzte im Streitfall das Merkmal der Eigenverantwortlichkeit ausschloß.

Soweit mit der Beschwerde gerügt wird, das FG habe es unterlassen, den Sachverhalt zur Frage der Partnerschaft mit A aufzuklären, ist ein Verfahrensmangel nicht schlüssig dargetan. Bei einer Rüge der Verletzung der von Amts wegen gebotenen Pflicht zur Sachaufklärung gehören hierzu Ausführungen zu den auch ohne Antrag aufzuklärenden Tatsachen und zu den zu erhebenden Beweisen. Ferner muß die Beschwerde erkennen lassen, aus welchen Gründen ein durch einen sachkundigen Prozeßbevollmächtigten vertretener Kläger keine entsprechenden Beweisanträge gestellt hat, gleichwohl aber sich dem FG die Notwendigkeit einer weiteren Aufklärung von sich aus aufdrängen mußte. Des weiteren ist darzulegen, welche entscheidungserheblichen Tatsachen sich voraussichtlich ergeben hätten und inwiefern sie auf der Grundlage der Rechtsauffassung des FG zu einer anderen Entscheidung hätten führen können (ständige Rechtsprechung vgl. z. B. BFH-Beschluß vom 17. November 1997 VIII B 12/97, BFH/NV 1998, 608; Gräber/Ruban, a. a. O., §120 Anm. 40). Daran mangelt es hier bei allen Punkten. Insbesondere hat der Kläger nicht angegeben, aufgrund welcher Beweismittel das FG zu der Feststellung hätte gelangen sollen, der Kläger sei mit A eine Partnerschaft auf Probe eingegangen. Statt dessen wendet sich die Beschwerde im wesentlichen gegen die Würdigung des vom FG festgestellten Sachverhalts. Ein etwaiger Fehler wäre jedoch ein Verstoß gegen das materielle Recht und somit der Prüfung im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde entzogen (vgl. z. B. BFH-Beschlüsse in BFH/NV 1998, 608, und vom 5. Januar 1998 V B 76/97, BFH/NV 1998, 727).

Von einer weiteren Begründung wird gemäß Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs abgesehen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 302823

BFH/NV 1998, 1511

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