Leitsatz

1. Der Anspruch auf Kindergeld im nachrangigen Staat ist nicht nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ausgeschlossen, wenn nur ein Anspruch im nachrangigen Staat besteht, die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für einen Anspruch im vorrangigen Staat aber nicht erfüllt werden.

2. Die Koordinierungsregel des Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ist nur anwendbar, wenn konkurrierende Ansprüche im Sinne dieser Vorschrift vorliegen.

3. Wird daher in dem vorrangig zuständigen Mitgliedstaat für einzelne Kinder keine dem Kindergeld vergleichbare Leistung erbracht, weil die nationalen Rechtsvorschriften keinen Anspruch für das Kind vorsehen, müssen die allein durch den Wohnort einer berechtigten Person ausgelösten Ansprüche auf Familienleistungen für in einem anderen Mitgliedstaat lebende Kinder erfüllt sein.

 

Normenkette

Art. 68 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3, Art. 67 VO (EG) Nr. 883/2004, § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1, § 32 EStG

 

Sachverhalt

Der Kläger, seit Juni 2010 verheirateter polnischer Staatsbürger, hat einen Wohnsitz im Inland und war im Streitzeitraum nicht erwerbstätig. Sein Kind lebt im Haushalt des Klägers und seiner Ehefrau in Polen. Die Ehefrau war nicht erwerbstätig und hat sich damit einverstanden erklärt, dass das Kindergeld an den Kläger gezahlt wird. In Polen werden keine Familienleistungen bezogen; da das Familieneinkommen die Einkommensgrenze von 574 Zloty übersteigt.

Die Familienkasse setzte zunächst Kindergeld fest. Später hob sie die Festsetzung für Juni 2014 bis Dezember 2015 gemäß § 70 Abs. 2 EStG wieder auf, weil der Kläger keine Nachweise über seine selbstständige Tätigkeit erbracht habe. Der Kindergeldanspruch sei daher nach dem Wohnortprinzip gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ausgeschlossen.

Die Klage hatte Erfolg (FG Köln, Urteil vom 15.11.2018, 14 K 2164/17, Haufe-Index 13615971).

 

Entscheidung

Der BFH wies die Revision der Familienkasse als unbegründet zurück. Das FG hat zu Recht entschieden, dass der Anspruch auf deutsches Kindergeld nicht durch Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ausgeschlossen ist.

 

Hinweis

1. Ansprüche auf Familienleistungen mehrerer EU-Mitgliedstaaten sind nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 883/2004 zu koordinieren. Welcher Staat vorrangig zuständig ist, bestimmt sich danach, ob der Anspruch durch

  • Erwerbstätigkeit,
  • eine Rente oder
  • ("nur") den Wohnort ausgelöst wird.

2. Bei gleichrangigen Ansprüchen (z.B. Auslösung in beiden Staaten durch die Erwerbstätigkeit) bestimmt sich der Vorrang durch den Wohnort der Kinder. Der nachrangig zuständige Staat braucht nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der VO Nr. 883/2004 nur ­Differenzleistungen zu erbringen (BFH-Urteil vom 9.12.2020, III R 73/18, BFH/PR 2021, 271).

3. Der danach vorgesehene Differenzbetrag muss aber gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 nicht für Kinder gewährt werden, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, wenn der entsprechende Leistungsanspruch im nachrangigen Mitgliedstaat ausschließlich durch den Wohnort (des Anspruchstellers) ausgelöst wird (BFH, Senatsurteil vom 22.2.2018, III R 10/17, BStBl II 2018, 717, Rz. 28 f.).

Beispiel 1: Ein Anspruch auf deutsches (Differenz-)Kindergeld entfällt, wenn der Anspruch in Deutschland und in dem anderen Mitgliedstaat (nur) durch den Wohnort ausgelöst wird, die Kinder im anderen Mitgliedstaat wohnen und für sie dort monatlich 10 EUR Familienleistungen gezahlt werden.

4. Die Koordinierungsregel des Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ist aber nur anwendbar, wenn konkurrierende Ansprüche im Sinne dieser Vorschrift vorliegen.

Wird daher in dem vorrangig zuständigen Mitgliedstaat für einzelne Kinder keine dem Kindergeld vergleichbare Leistung erbracht, weil die nationalen Rechtsvorschriften keinen Anspruch für das Kind vorsehen, müssen die allein durch den Wohnort einer berechtigten Person ausgelösten Ansprüche auf Familienleistungen für in einem anderen Mitgliedstaat lebende Kinder erfüllt werden.

Beispiel 2: Der Anspruch auf Familienleistungen im vorrangig zuständigen Wohnsitzstaat der Kinder (Beispiel 1) i.H.v. 10 EUR monatlich endet, z.B. weil die dortige Grenze für das Familieneinkommen aufgrund deutscher Sozialleistungen überschritten wird oder dort eine niedrigere Altersgrenze für Kinder als in Deutschland besteht. Weil nun nur noch ein deutscher Anspruch besteht, entfällt eine Koordinierung. Deutschland ist jetzt zur Zahlung des vollen Kindergeldes verpflichtet!

Der BFH bestätigt, dass es merkwürdig anmutet, dass Deutschland für ein im anderen Mitgliedstaat wohnendes Kind bei einer nur geringen ausländischen Familienleistung, die allein durch den Wohnort ausgelöst wird, keinen Unterschiedsbetrag leisten muss, hingegen das volle Kindergeld zu zahlen hat, wenn im vorrangigen Mitgliedstaat überhaupt kein Anspruch besteht. Das Ergebnis entspricht aber den europarechtlichen Vorgaben.

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