Soll ein Steuerbescheid nach einer Korrekturvorschrift aufgehoben oder geändert werden, werden dabei nicht selten Fehler in der Steuerfestsetzung entdeckt, die sich "gegenläufig" auswirken. Solche materiellen Fehler, für die es keine eigenständige Korrekturvorschrift gibt, sind gem. § 177 AO bei der Änderung zu berücksichtigen, d. h. gegen zu rechnen, soweit die Änderung reicht.

§ 177 AO ist eine unselbstständige Korrekturvorschrift, d. h. für sich allein ist sie nicht anwendbar. Sie greift nur, wenn bereits eine andere Rechtsgrundlage eine Änderung gebietet, z. B. §§ 172ff., 129 AO, § 10d EStG.

Gem. § 177 Abs. 4 AO bleiben §§ 164 Abs. 2, 165 Abs. 2 und 176 AO unberührt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Saldierungsmöglichkeit bei einer Änderung nach § 165 Abs. 2 AO ausgeschlossen sein soll (bei einer Änderung nach § 164 Abs. 2 AO stellt sich diese Frage wegen der umfassenden Korrekturmöglichkeit ohnehin nicht).[1] Es soll damit nur die Möglichkeit der Änderung nach § 165 Abs. 2 AO selbst "unberührt", d. h. nicht ausgeschlossen sein.[2]

Bei Vorliegen einer oder mehrerer selbstständiger Korrekturen ist in deren Rahmen eine gegenläufige Mitberichtigung von nicht selbstständig korrigierbaren, "materiellen Fehlern" zulässig und erforderlich.

 
Praxis-Beispiel

Saldierungslage gegeben

Das Finanzamt erfährt nach der Einkommensteuerveranlagung eine neue Tatsache mit einer Mehrsteuer von 1.000 EUR. Bevor das Finanzamt den Bescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ändert, macht der Steuerpflichtige geltend,

  • das Finanzamt habe im 1. Bescheid zu Unrecht Werbungskosten (Mindersteuer 800 EUR) nicht anerkannt,
  • das Finanzamt müsse noch bisher nicht geltend gemachte Werbungskosten (Mindersteuer 1.300 EUR) berücksichtigen.

In beiden Fällen liegt ein materieller Fehler i. S. d. § 177 Abs. 1 AO vor. Im Fall a) kann das Finanzamt nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nur i. H. v. (1.000 ./. 800) 200 EUR ändern. Im Fall b) ist der materielle Fehler nur zu berücksichtigen, soweit die Änderung reicht (1.000 ./. 1.300 [höchstens 1.000 EUR] = 0 EUR); es bleibt bei der bisherigen Steuerfestsetzung. Entsprechendes gilt, wenn der Steuerpflichtige dies erst mit Einspruch[3] gegen den Änderungsbescheid einwendet.[4]

Liegen umgekehrt die Voraussetzungen für eine Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen vor, sind z. B. bisher zu Unrecht berücksichtigte Ausgaben nach § 177 Abs. 2 AO ebenfalls "gegenzurechnen".

Materieller Fehler ist gem. § 177 Abs. 3 AO jede objektive Unrichtigkeit eines Steuerbescheids einschließlich Fehlern i. S. d. § 129 AO. Materiell fehlerhaft ist ein Bescheid nicht nur, wenn bei Erlass des Steuerbescheids geltendes Recht unrichtig angewendet wurde, sondern auch, wenn der Steuerfestsetzung ein Sachverhalt zugrunde gelegt worden ist, der sich nachträglich als unrichtig erweist. Bei der Steuerfestsetzung nicht berücksichtigte Tatsachen sind deshalb, wenn sie zu keiner Änderung nach § 173 AO führen, zu berücksichtigen.[5] Auf ein Verschulden kommt es nicht an. Ein saldierungsfähiger materieller Fehler i. S. d. § 177 Abs. 3 AO ist auch gegeben, wenn das Finanzamt einen Grundlagenbescheid nicht rechtzeitig ausgewertet hat und daher durch die Vorschriften über die Festsetzungsverjährung an einer Auswertung gehindert ist.[6]

Kein Fehler i. S. d. § 177 AO liegt vor, wenn ein Steuerbescheid aufgrund von selbstständigen Änderungsvorschriften sowohl zugunsten als auch zuungunsten des Steuerpflichtigen geändert werden kann.

 
Praxis-Beispiel

Saldierung unnötig

Das Finanzamt erfährt neue Tatsachen zugunsten wie zuungunsten des Steuerpflichtigen, sodass die Voraussetzungen zur Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO (1.000 EUR) und § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO (1.200 EUR) für eine Änderung des Einkommensteuerbescheids i. H. v. ./. 200 EUR vorliegen. Ein Fall des § 177 AO ist nicht gegeben. Die Einkommensteuer ist um 200 EUR herabzusetzen.

 
Praxis-Beispiel

Saldierung nötig

Sachverhalt wie im vorigen Beispiel, jedoch ist dem Steuerpflichtigen grobes Verschulden i. S. d. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO vorzuwerfen. Hier kommt § 177 Abs. 1 AO zur Anwendung, der materielle Fehler ist gegenzurechnen, jedoch nur bis zur Höhe von 1.000 EUR; es bleibt bei der bisherigen Steuerfestsetzung.[7]

§ 177 AO setzt das Vorliegen einer "Aufhebung" oder "Änderung" eines Steuerbescheids voraus. Die "Berichtigung" nach § 129 AO würde demnach nicht darunter fallen.

 
Praxis-Beispiel

Saldierung bei offenbarer Unrichtigkeit

Ein Einkommensteuerbescheid enthält eine offenbare Unrichtigkeit i. S. d. § 129 AO, wodurch die Einkommensteuer um 1.000 EUR zu niedrig festgesetzt ist. Der Steuerpflichtige wendet ein, der Steuerbescheid enthalte einen materiellen Fehler, wodurch die Steuer um 300 EUR zu hoch festgesetzt sei. § 177 AO findet unmittelbar keine Anwendung. Er ist jedoch insoweit mittelbar zu berücksichtigen, als § 129 AO bei der Frage der Berichtigung eine Ermessensausübung vorschreibt. Der materielle Fehler ist daher im Ergebnis[8] gegenzurechnen.[9]

Gegenzurechnen sind auch Fehler, für die bereits Festsetzungsver...

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