Leitsatz

Hat der Steuerpflichtige dem FA den für die Besteuerung maßgeblichen Sachverhalt im Veranlagungsverfahren vollständig offengelegt, handelt er nicht arglistig und bedient sich auch nicht sonstiger unlauterer Mittel i.S.d. § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO, wenn er sich im Einspruchsverfahren weiterhin auf Angaben in der Lohnsteuerbescheinigung bezieht, denen nach Auffassung des FA eine unzutreffende rechtliche Würdigung des Arbeitgebers zugrunde liegt.

 

Normenkette

§§ 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c, 173 Abs. 1 Nr. 1 AO, § 3 Nr. 63 EStG

 

Sachverhalt

K war in der ersten Jahreshälfte bei A, dann bei B beschäftigt. K erklärte Lohneinkünfte von – 20.201 EUR und Entschädigungen von 174.034 EUR. A hatte dem FA einen Lohn von – 26.980,08 EUR übermit­telt und einen ermäßigt besteuerten Lohn von 174.034,28 EUR, B Lohn von 6.920 EUR. Auf Nachfrage des FA legte K eine Abfindungsvereinbarung vor, wonach A an K 174.034,28 EUR zahlen und davon 50.017 EUR in eine Direktversicherung für K einzahlen sollte. Nach einer Bescheinigung der A zu Zeile 3 der LSt-Bescheinigung hatte A beim Bruttoarbeitslohn die Einzahlung in die Direktversicherung (50.017 EUR) als Abzugsposten berücksichtigt und kam so zum Wert von – 26.980,08 EUR. Im ESt-Bescheid vom 25.11.2008 setzte das FA Ks Bruttolohn mit 29.956 EUR an, behandelte den Beitrag (50.017 EUR) als steuerfrei (§ 3 Nr. 63 EStG); das ergab eine Abfindung von 124.017 EUR. Im Einspruch machte K (wieder) As Berechnungsmethode geltend (Bruttolohn – 20.061 EUR; ermäßigt besteuerter Arbeitslohn 174.034 EUR). Eine andere Sachbearbeiterin des FA half diesem Einspruch ab (Bescheid vom 4.2.2009). Nach einer LSt-Außenprüfung bei A änderte das FA diesen Bescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO wieder wie im ursprünglichen Bescheid. Ks dagegen erhobene Klage war erfolgreich (FG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2.7.2014, 2 K 716/11, Haufe-Index 7505750).

 

Entscheidung

Der BFH folgte dem FG, wie unter den Praxis-Hinweisen erläutert.

 

Hinweis

Die Grundfrage des Falles: Durfte der bestandskräftige ESt-Bescheid 2007 vom 4.2.2009 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO oder nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO geändert werden?

1. Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO erfordert nachträglich bekannt werdende Tatsachen oder Beweismittel. Das fehlte hier, denn die zugrunde liegenden Tatsachen waren dem FA spätestens bekannt, nachdem K auf Nachfrage des FA sämtliche Unterlagen übersandt hatte. Tatsachen meint Lebenssachverhalte, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (dazu BFH, Beschluss vom 18.12.2014, VI R 21/13, BFH/NV 2015, 714, BFH/PR 2015, 216). "Nachträglich bekannt" werden diese, wenn die zuständige Dienststelle von ihnen Kenntnis erlangt, nachdem die Willensbildung über die Steuerfestsetzung abgeschlossen ist. Aktenkundiges gilt allerdings stets als bekannt (BFH, Urteil vom 13.6.2012, VI R 85/10, BFHE 238, 295, BStBl II 2013, 5, m.w.N.), aber nicht solche Tatsachen, die sich aus den Akten eines Dritten ergeben, auch wenn der vom selben Beamten veranlagt wird (BFH, Beschluss vom 18.6.2015, VI R 84/13, BFH/NV 2015, 1342). Hier ging es also nicht um Tatsachen, sondern um Schlussfolgerungen daraus, nämlich rechtliche Würdigungen und Bewertungen, Rechtsansichten und juristische Subsumtionen. Dem FA waren sowohl der Auflösungsvertrag als auch die eigene Berechnungsmethode des A bekannt. Diese Tatsachen hatten die Sachbearbeiter lediglich unterschiedlich subsumiert.

2. Eine vom FA auch herangezogene Änderung nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO, dass nämlich der Bescheid durch unlautere Mittel (arglistige Täuschung, Drohung, Bestechung) erwirkt worden wäre, verneinten FG und BFH. Eine arglistige Täuschung (= bewusste und vorsätzliche Irreführung zur Beeinflussung der Willensbildung der Behörde durch wahrheitswidrige Angaben) fehlte. Auf ein Mitverschulden (erkennen können) der Behörde kommt es nicht an. Das Vorbringen einer vom FA abweichenden juristischen Auffassung ist weder "arglistig" noch "unlauter". Auch die LSt-Bescheinigung, die nur den tatsächlichen Lohnsteuerabzug dokumentiert (BFH, Urteil vom 30.10.2008, VI R 10/05, BFH/NV 2009, 458, BFH/PR 2009, 177), ergibt kein solches unlauteres Vorbringen unrichtiger tatsächlicher Angaben.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 8.7.2015 – VI R 51/14

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