Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zum EuGH, Az beim EuGH C-108/20: Auslegung des Begriffs „Lieferkette” im Zusammenhang mit der Versagung des Vorsteuerabzugs in Missbrauchsfällen bei Kenntnis bzw. Kennenmüssen von einer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe begangenen Steuerhinterziehung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Dem Gerichtshof der Europäischen Union – EuGH – wird folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Sind Art. 167 und Art. 168 Buchst. a Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem – MwStSystRL – dahingehend auszulegen, dass sie einer nationalen Rechtsanwendung entgegen stehen, nach der ein Vorsteuerabzug auch dann zu versagen ist, wenn auf einer vorhergehenden Umsatzstufe eine Umsatzsteuerhinterziehung begangen wurde und der Steuerpflichtige hiervon Kenntnis hatte oder hätte haben müssen, er mit dem an ihn erbrachten Umsatz aber weder an der Steuerhinterziehung beteiligt noch in diese einbezogen war und die begangene Steuerhinterziehung auch nicht gefördert oder begünstigt hat?

2. Sind die materiellen und formellen Voraussetzungen für die Entstehung und Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug erfüllt, ist gleichwohl eine Versagung des Vorsteuerabzugs unionsrechtlich geboten, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass der betreffende Umsatz in eine vom Lieferer begangene Steuerhinterziehung einbezogen war oder dass in der „Lieferkette” bei einem anderen Umsatz, der dem vom Steuerpflichtigen getätigten Umsatz vorausgeht oder nachfolgt, Mehrwertsteuer hinterzogen wurde (vgl. EuGH-Rechtsprechung). Im Urteilsfall ist streitig, wie der Begriff „Lieferkette” unter Beachtung der unionsrechtlichen Vorgaben auszulegen ist und ob von einer „Lieferkette” auszugehen ist, wenn zwar die Unternehmerin ordnungsgemäß in Rechnung gestellte und tatsächlich gelieferte Waren von einer GmbH bezogen hat, wenn jedoch die GmbH ihrerseits die Waren ohne Inrechnungstellung vom Ehemann der Unternehmerin bezogen, ein Mitarbeiter der GmbH Scheinrechnungen über den Wareneinkauf erstellt und die GmbH sodann zu Unrecht aus diesen Scheinrechnungen den Vorsteuerabzug geltend gemacht hat.

 

Normenkette

UStG § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 S. 1, S. 2; MwStSystRL Art. 167, 168 Buchst. a

 

Tenor

I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union – EuGH – wird folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Sind die Art. 167, 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem – MwStSystRL –dahingehend auszulegen, dass sie einer nationalen Rechtsanwendung entgegen stehen, nach der ein Vorsteuerabzug auch dann zu versagen ist, wenn auf einer vorhergehenden Umsatzstufe eine Umsatzsteuerhinterziehung begangen wurde und der Steuerpflichtige hiervon Kenntnis hatte oder hätte haben müssen, er mit dem an ihn erbrachten Umsatz aber weder an der Steuerhinterziehung beteiligt noch in diese einbezogen war und die begangene Steuerhinterziehung auch nicht gefördert oder begünstigt hat?

II. Das Klageverfahren wird bis zur Entscheidung über das Vorabentscheidungsgesuch zu I. ausgesetzt.

 

Tatbestand

I.

1. Die Klägerin betrieb – unter Mitarbeit ihres Ehemannes – in den Streitjahren 2009 und 2010 einen Getränkegroßhandel in …. In ihren Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre machte sie u.a. Vorsteuern aus Rechnungen der Fa. P. GmbH i.H.v. 993.164 EUR (2009) und 108.417,87 EUR (2010) geltend. Die in den Rechnungen aufgeführten Getränkelieferungen (insbesondere Spirituosen und das Getränk Red Bull) wurden von der P. GmbH tatsächlich an die Klägerin erbracht. Die Rechnungsbeträge wurden von der Klägerin an die P. GmbH gezahlt und die P. GmbH erfasste ebenso wie die Klägerin die Umsätze in ihrer Buchführung. Weder die Klägerin noch die P. GmbH haben im Rahmen ihrer Umsatzbeziehung eine Steuerhinterziehung begangen. Die Rechnungen der P. GmbH entsprechen den gesetzlichen Vorgaben aus §§ 14, 14a UmsatzsteuergesetzUStG –. Die Klägerin verkaufte die von der P. GmbH bezogenen Getränke weiter, ohne dass mit den Weiterverkäufen eine Umsatzsteuerhinterziehung begangen wurde.

2. Die P. GmbH hat ausweislich zweier – mittlerweile rechtskräftiger – strafrechtlicher Urteile die an die Klägerin gelieferten Getränke unter Begehung mehrerer Umsatzsteuerhinterziehungen bezogen. Dem lag nach den strafgerichtlichen Feststellungen folgender Sachverhalt zugrunde: Der Ehemann der Klägerin belieferte als verantwortlicher Beteiligter die P. GmbH in großem Umfang (Gesamtumsatz bis September 2010: ca. 80 Mio. EUR) mit Spirituosen, Kaffee und Red Bull. Rechnungen wurden über diese Lieferungen nicht erteilt. Stattdessen erstellte ein Mitarbeiter der P. GmbH Scheinrechnungen über den Wareneinkauf. Aus diesen machte die P. GmbH sodann zu Unrecht den Vorsteuerabzug geltend. Der Ehemann der Klägerin stellte der P. GmbH zugleich Preislisten und potentielle Abnehmer für die Ware zur Verfügung. Die Ware wurde an verschiedene Abnehmer – u.a. di...

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