Leitsatz (amtlich)

Im Rechtsstreit über die Verpflichtung des Finanzamts, bereits festgesetzte Einkommensteuer-Vorauszahlungen niedriger festzusetzen, ist die Hauptsache erledigt, wenn während des gerichtlichen Verfahrens ein Einkommensteuerbescheid über einen Veranlagungszeitraum ergeht, für den die Vorauszahlungen angepaßt werden sollen.

 

Normenkette

FGO § 100 Abs. 1 S. 4; EStG 1975 § 37 Abs. 3 S. 3

 

Tatbestand

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) hat den Antrag der Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) abgelehnt, die Einkommensteuer-Vorauszahlungen für 1975 und 1976 auf 0 DM festzusetzen. Die an die Oberfinanzdirektion (OFD) gerichtete Beschwerde ist erfolglos geblieben.

Auf die Klage hat das Finanzgericht (FG) die Entscheidung des FA vom 27. Juli 1976 und die Beschwerdeentscheidung der OFD vom 9. Dezember 1976 aufgehoben; das FA wurde verpflichtet, über den Antrag der Kläger auf Anpassung der Vorauszahlungen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Das FG (Entscheidungen der Finanzgerichte 1977 S. 430 - EFG 1977, 430 -) war der Ansicht, die Verfügung des FA beruhe auf einem Ermessensfehler; die Behörde habe ihre Entscheidung zu Unrecht darauf gegründet, daß in den erklärten Einkünften Verluste aus sog. Abschreibungsgesellschaften enthalten seien und daß die Berücksichtigung solcher Einkünfte nur bei Vorliegen einer entsprechenden Mitteilung des Betriebs-FA möglich sei.

Mit der Revision beantragte das FA zunächst, das angefochtene Urteil, soweit es die Anpassung der Einkommensteuer-Vorauszahlungen für das Kalenderjahr 1975 betrifft, aufzuheben und insoweit die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragten, die Revision zurückzuweisen.

Hierauf ist den Beteiligten durch Verfügung des Vorsitzenden vom 20. Januar 1978 mitgeteilt worden:

"Das Finanzamt hat ... dem Finanzgericht mit Schreiben vom 28. März 1977 die Einkommensteuererklärung der Kläger für 1975 übermittelt. Den Eingabewertbogen für die Einkommensteuer 1975 hatte der Sachbearbeiter beim Finanzamt bereits am 17. März 1977 abgezeichnet; nach dem in den Einkommensteuerakten befindlichen Hinweisblatt zu dem Bescheid war der Rechentermin am 25. März 1977. Die mündliche Verhandlung beim Finanzgericht hat am 20. April 1977 stattgefunden. Aufgrund des Beschlusses, daß die Entscheidung schriftlich zugestellt werde, ist das Urteil des Finanzgerichts ausweislich der Empfangsbekenntnisse den Klägern am 24. Juni 1977 und dem Finanzamt am 27. Juni 1977 zugestellt worden. Zu dieser Zeit war der Einkommensteuerbescheid 1975 den Klägern bereits bekanntgegeben (§ 122 Abs. 2 der Abgabenordnung); nach dem Datumsvermerk, der auf dem in den Akten des Finanzamts befindlichen Abdruck des Steuerbescheides angebracht ist, ist der Bescheid am 10. Juni 1977 zur Post gegeben worden, ...

Nach dem Erlaß des Einkommensteuerbescheides für 1975 dürfte eine Entscheidung des Finanzamts über den die Vorauszahlungen für den Veranlagungszeitraum 1975 betreffenden Anpassungsantrag der Kläger (unter Beachtung der Rechtsauffassung des Finanzgerichts) wohl nicht mehr in Betracht kommen; über die Klage, die sich auf die Anpassung der Vorauszahlungen für den Veranlagungszeitraum 1976 bezog, ist - da das Urteil des Finanzgerichts insoweit mit der Revision nicht angefochten wurde - rechtskräftig entschieden. Es ist daher ... zweifelhaft, ob das Urteil des Finanzgerichts, soweit es sich auf die Anpassung der Einkommensteuer-Vorauszahlungen für den Veranlagungszeitraum 1975 bezieht, aufrechterhalten werden kann.

Die Beteiligten erhalten Gelegenheit, zu prüfen, ob sie die Hauptsache für erledigt erklären wollen."

Das FA teilte mit, die Kläger hätten gegen den Einkommensteuerbescheid rechtzeitig Einspruch eingelegt; über den Einspruch sei noch nicht entschieden. Die Vollziehung des Einkommensteuerbescheides habe das FA nicht ausgesetzt; hiergegen hätten die Kläger Beschwerde zur Oberfinanzdirektion eingelegt, über die ebenfalls noch nicht entschieden sei.

Das FA wies noch darauf hin, daß nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) in Fällen, in denen ein Rechtsstreit über die Festsetzung von Vorauszahlungen schwebe, durch Erlaß des Einkommensteuerbescheides für den betreffenden Veranlagungszeitraum die Hauptsache nicht erledigt sei. Der Vorauszahlungsbescheid entfalte eigenständige Wirkungen, z. B. hinsichtlich der Säumniszuschläge. Es sei deshalb zweckmäßig, über die Revision zu entscheiden, da die Voraussetzungen für die Festsetzung und Anpassung von Vorauszahlungen nach § 37 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1975 andere seien als die für die Aussetzung der Vollziehung nach § 361 der Abgabenordnung (AO 1977) oder § 69 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

Nach Ansicht der Kläger ist eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr erforderlich, da der Vorauszahlungsbescheid durch den Steuerbescheid ersetzt worden und somit für den Vorauszahlungsbescheid keine eigenständige Wirkung mehr gegeben sei. Sie sind der Ansicht, daß die Hauptsache erledigt ist und beantragen, die Kosten des Rechtsstreits dem FA aufzuerlegen.

 

Entscheidungsgründe

Die Hauptsache ist erledigt.

I. Der Einkommensteuerbescheid für den Veranlagungszeitraum 1975 ist den Klägern gegenüber wirksam geworden, bevor ihnen das den Streit um die Anpassung der Vorauszahlungen für den gleichen Zeitraum betreffende Urteil des FG zugestellt worden ist. Der am 10. Juni 1977 zur Post gegebene Einkommensteuerbescheid gilt gemäß § 122 Abs. 2 AO 1977 am 13. Juni 1977 als bekanntgegeben und ist an diesem Tage wirksam geworden. Das Urteil des FG, das anstelle der Verkündung zugestellt worden ist (§ 104 Abs. 2 FGO), ist ausweislich des Empfangsbekenntnisses (§ 5 Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes - VwZG -) den Klägern am 24. Juni 1977 zugestellt (BFH-Beschluß vom 23. Juni 1971 I B 12/71, BFHE 102, 457, BStBl II 1971, 723) und damit ihnen gegenüber an diesem Tage wirksam geworden (Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 104 Rdnr. 12). Geht man hingegen davon aus, daß auch die Zustellung an das beklagte FA Wirksamkeitsvoraussetzung für das angefochtene Urteil gewesen ist, so wäre das Urteil erst am 27. Juni 1977 wirksam geworden; ausweislich des Empfangsbekenntnisses (§ 5 Abs. 2 VwZG) hat das FA das Empfangsbekenntnis an diesem Tage vollzogen.

II. Nach der Rechtsprechung des BFH (Urteile vom 14. Januar 1965 IV 9/64, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1965 S. 334 - HFR 1965, 334 -, und vom 5. Juli 1966 I 65/64, BFHE 86, 646, BStBl III 1966, 605; Beschluß vom 13. Mai 1971 V B 61/70, BFHE 102, 31, BStBl II 1971, 492; dagegen Zehendner, Der Betriebs-Berater 1971 S. 469 - BB 1971, 469 -) wird im Rechtsstreit über die Rechtmäßigkeit eines Vorauszahlungsbescheides die Hauptsache nicht erledigt, wenn während des gerichtlichen Verfahrens ein Steuerbescheid ergeht, der ganz oder zum Teil Zeiträume umfaßt, auf die sich der Vorauszahlungsbescheid bezog.

Für den Streitfall kann offen bleiben, ob sich der Senat dieser Ansicht uneingeschränkt anschließen bzw. an ihr festhalten könnte. Denn die Kläger haben nicht einen vom FA erlassenen Vorauszahlungsbescheid angegriffen; sie begehrten vielmehr vom FA die Anpassung der Vorauszahlungen (§ 37 Abs. 3 Satz 3 EStG 1975). Dieses Begehren haben sie mit der Verpflichtungsklage verfolgt, der das FG durch das vom FA mit der Revision zum Teil angefochtene Bescheidungsurteil entsprochen hat.

Nach Erlaß des Einkommensteuerbescheides für 1975 war jedoch kein Raum mehr für das Begehren, die Vorauszahlungen für den Veranlagungszeitraum 1975 der Einkommensteuerschuld anzupassen, die sich für den Veranlagungszeitraum 1975 voraussichtlich ergeben wird. Durch den vor Wirksamwerden des Urteils des FG ergangenen Einkommensteuerbescheid 1975 ist die Steuerschuld für den Veranlagungszeitraum 1975 festgesetzt worden (§ 25 Abs. 1 EStG). Nachdem dieser Bescheid ergangen war, war es rechtlich nicht mehr zulässig, einen Vorauszahlungsbescheid für den ganzen oder einen Teil des Veranlagungszeitraums 1975 zu erlassen. Das FA konnte demgemäß auch nicht mehr verpflichtet werden, die Vorauszahlungen für einen Zeitraum anzupassen, für den die Jahressteuerschuld bereits festgesetzt war. Ob im Streitfall noch in der Revisionsinstanz der Übergang zur sog. Fortsetzungsfeststellungsklage (BFH-Urteil vom 23. März 1976 VII R 106/73, BFHE 118, 503, BStBl II 1976, 459) möglich gewesen wäre, kann dahingestellt bleiben. Die Kläger haben einen entsprechenden Antrag nicht gestellt, vielmehr zum Ausdruck gebracht, daß sie die Hauptsache als erledigt ansehen.

Über diese Rechtsfolge, der das FA widersprochen hat, ist durch Urteil zu entscheiden (vgl. BFH-Urteil vom 19. Mai 1976 I R 154/74, BFHE 119, 219 [220], BStBl II 1976, 785). Die Behörde hat erkärt, mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht einverstanden zu sein; dem Senat erscheint es zweckmäßig, zunächst durch Vorbescheid zu erkennen (§§ 90 Abs. 3, 121 FGO).

III. Das FA hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen, weil sein Rechtsmittel erfolglos geblieben ist. Die Behörde ist unterlegen, weil sie zu Unrecht die Erledigung der Hauptsache bestritten und daher zu Unrecht den Antrag, die Klage abzuweisen, aufrechterhalten hat (BFH-Urteil vom 19. Januar 1971 VII R 32/69, BFHE 101, 201, BStBl II 1971, 307).

IV. Auf die Frage, ob nach einseitiger Erledigungserklärung des Klägers dann in der Sache selbst zu entscheiden ist, wenn der Beklagte ein Rechtsschutzinteresse an der Feststellung hat, daß die Klage von Anfang an unbegründet war (Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Januar 1965 I C 68/61, BVerwGE 20, 146, und vom 27. Februar 1969 VIII C 37, 38/67, BVerwGE 31, 318), kommt es im Streitfall nicht an. Tatsachen, die ein solches Feststellungsinteresse des beklagten FA rechtfertigen könnten, sind aus dem Vortrag der Behörde nicht ersichtlich.

Eine Vorlagepflicht an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes gemäß § 2 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes wegen Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 7. November 1968 VII ZR 72/66, Neue Juristische Wochenschrift 1969 S. 237, mit Nachweisen) besteht aus den im BFH-Urteil VII R 32/69 (BFHE 101, 203) dargelegten Gründen nicht.

 

Fundstellen

Haufe-Index 72841

BStBl II 1978, 596

BFHE 1979, 336

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