Leitsatz (amtlich)

1. Der Anwalt hat keinen Rechtsanspruch auf Aktenüberlassung in seine Wohn- oder Praxisräume.

2. Es liegt im pflichtmäßigen Ermessen des Senatsvorsitzenden des Finanzgerichts, zu gestatten, daß einem Anwalt Gerichtsakten zur Mitnahme in seine Wohn- oder Geschäftsräume überlassen werden.

2. Zu den "Gerichtsakten" gehören auch die vom Finanzamt gemäß § 71 Abs. 2 FGO unter Beachtung des § 22 AO vorzulegenden, den Streitfall betreffenden Akten.

 

Normenkette

FGO § 78 Abs. 1

 

Tatbestand

Der Bf., wohnhaft in Bonn, ist Prozeßbevollmächtigter der Klägerin in einer Klagesache vor dem FG Münster wegen Herabsetzung der HGA nach § 104 LAG. Der Bf. hat beantragt, ihm Unterlagen aus den Akten zu überlassen, um sich eventuell selbst Fotokopien anzufertigen. Der Berichterstatter des für die Entscheidung zuständigen Senats des FG hat daraufhin angeordnet, daß die Akten dem FA Bonn-Stadt übersandt werden und dem Bf. dorf die Einsichtnahme gestattet werde; hiervon hat er den Bf. verständigt. Daraufhin hat der Bf. mit weiterem Schriftsatz gebeten, das FA anzuweisen, ihm Akteneinsicht unter Aushändigung der Gerichtsakten auf seine Kanzlei zu gewähren. Da ihm dies durch den Berichterstatter abgelehnt wurde, beantragte er eine Entscheidung des Senats dahin, "durch entsprechende Anweisung an das FA Akteneinsicht unter Aushändigung der Gerichtsakten auf unserer Kanzlei zu gewähren".

Er begründet seinen Antrag wie folgt: Zwar enthalte § 78 FGO keinen unmittelbaren Anspruch des Prozeßbevollmächtigten auf Aktenüberlassung; diese Vorschrift beeinhalte aber auch kein ausdrückliches Verbot zur Überlassung von Gerichtsakten. Aus den entsprechenden Vorschriften der §§ 100 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), 120 des Sozialgerichtsgesetzes und 147 Abs. 4 der Strafprozeßordnung könne vielmehr entnommen werden, daß die Aktenüberlassung an den Anwalt den Regelfall bilde und deshalb das Schweigen des Gesetzes in § 78 FGO kein ausreichender Grund für eine abweichende Handhabung im finanzgerichtlichen Verfahren bedeute. Das Recht auf Akteneinsicht sei ein Ausfluß des verfassungsrechtlich garantierten Grundsatzes des rechtlichen Gehörs. Die in § 78 FGO vorgesehene Möglichkeit, sich Abschriften aus den Akten erteilen zu lassen, sei nicht ausreichend, weil sich erst nach Einsichtnahme in die Akten absehen lasse, welche Teile der Akten bedeutsam seien. Einer Aushändigung der Akten stehe auch nicht das Steuergeheimnis (§ 22 AO) entgegen, wie sich aus dem Urteil des BFH VI 349/63 U vom 6. August 1965 (BFH 83, 490, BStBl III 1965, 675) ergebe. Der bevollmächtigte Anwalt sei kein unbeteiligter Dritter, sondern als Vertreter des Stpfl. sogar zur Einsichtnahme in die Akten verpflichtet. Das Recht auf Aktenüberlassung könne auch nicht mit dem Hinweis abgelehnt werden, daß die Gefahr der Einsichtnahme durch nichtberechtigte Dritte bestehe, wie Ziemer-Birkholz, Finanzgerichtsordnung, 1. Aufl., 1966, Anm. 8 zu § 78 ausführten. Auch aus der Entstehungsgeschichte des § 78 FGO könne für die hier zu entscheidende Frage der Aktenüberlassung nichts Entscheidendes entnommen werden. Zwar habe die Bundesregierung in ihrer Begründung zu § 78 FGO (Bundestagsdrucksache IV/1446) ausgeführt, man habe die in § 100 Abs. 2 Satz 2 VwGO vorgesehene Möglichkeit der vorübergehenden Überlassung der Akten an einen bevollmächtigten Rechtsanwalt nicht in die FGO übernommen, um eine Bevorzugung der Anwälte gegenüber anderen als Bevollmächtigte in Betracht kommenden Berufsgruppen zu vermeiden. Diese Auffassung sei aber für eine objektive Gesetzesauslegung irrelevant; sie verkenne nämlich die Bedeutung der Anwaltschaft als Organ der Rechtspflege (§ 1 der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte - BRAGebO -). Die der Anwaltschaft hiernach zukommende Sonderstellung könne niemals ungerechtfertigt sein.

Auf die Anfrage des Berichterstatters beim Veranlagungs-FA, ob dieses seine Zustimmung zur Aktenüberlassung erteile, verweigerte dieses seine Zustimmung mit dem Hinweis, daß der Bf. nach § 78 FGO keinen Anspruch auf Aushändigung der Akten habe und eine solche auch nicht vertretbar sei. Zu einer weiteren Anfrage des Berichterstatters an den Bf., ob er nur die "Gerichtsakten" oder auch die Akten des FA übersandt haben wolle, gab dieser keine eindeutige Erklärung ab.

Das FG hat den Antrag auf Aktenüberlassung mit Beschluß vom 12. Januar 1967 abgelehnt. Die Vorinstanz führt aus, daß dem Bf. nach § 78 FGO nur das Recht auf Akteneinsicht auf der Geschäftsstelle des Gerichts zustehe; Aktenversendung könne nicht verlangt werden, wie sich aus dem Urteil des BGH III ZR 191/59 vom 12. Dezember 1960 (NJW 1961 S. 559) ergebe. Eine eventuelle Herausgabe der Akten bedürfe der vorherigen Genehmigung des Vorsitzenden, der die Zustimmung nach seinem pflichtgemäßen Ermessen erteilen könne. Im vorliegenden Fall habe der Berichterstatter die Übersendung der HGA-Akten an das FA für ausreichend gehalten, da sie der Bf. dort habe einsehen können und ihm so eine Reise zur Geschäftsstelle des FG erspart geblieben sei. Selbst bei entsprechender Anwendung der Vorschrift des § 100 Abs. 2 Satz 2 VwGO müsse der Antrag auf Aktenüberlassung abgelehnt werden, da sie bei Verlust in aller Regel nicht rekonstruiert werden könnten. Außerdem sei die überlassende Verwaltung Herr der Akten geblieben und habe auf Anfrage des Senats sich nicht damit einverstanden erklärt, die HGA-Akten dem Bevollmächtigten der Klägerin zur Mitnahme in seine Wohnung oder Geschäftsräume zu überlassen. Im übrigen sei der Antrag des Bf., ihm die "Gerichtsakten" zu überlassen, dahin gehend auszulegen, daß er nicht nur die eigentlichen - im Klageverfahren angefallenen - Gerichtsakten, sondern die Überlassung der HGA-Akten beantragt habe.

Gegen diese Entscheidung des FG hat der Bf. mit Schriftsatz vom 24. Januar 1967 Beschwerde eingelegt. Er ist der Meinung, daß die von der Vorinstanz gegebene Begründung nicht ausreiche, um seinen Antrag abzulehnen; es komme auch bei der Verwaltung vor, daß Akten in Verlust geraten würden. Außerdem habe die Verwaltung die Pflicht, Akten oder Aktenteile, die das Steuergeheimnis im Verhältnis zu dritten Personen beträfen, vor Übersendung der Akten an das Gericht zu entfernen. Eine Verletzung des Steuergeheimnisses sei schon aus diesem Grunde nicht möglich. Der Anwalt sei durch die Art seiner Tätigkeit gehindert, während der üblichen Dienststunden des FA die Akten einzusehen. Er könne dies nur an den dienstfreien Samstagen tun. Es sei daher eine ermessensfehlerhafte Entscheidung, wenn dem Rechtsanwalt die Akten nicht in seine Kanzleiräume überlassen würden.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die gemäß § 128 FGO zulässige Beschwerde ist unbegründet. Zunächst ist festzustellen, daß die von der Vorinstanz getroffene Entscheidung keine prozeßleitende Verfügung im Sinne des § 78 Abs. 2 in Verbindung mit § 128 Abs. 2 FGO darstellt, für die eine Beschwerdebefugnis nicht gegeben ist. Gegen eine Entscheidung der hier vorliegenden Art ist die Beschwerde gegeben; sie wird auch im Schrifttum einhellig für zulässig gehalten (Görg-Müller, Finanzgerichtsordnung, Randnr. 412, sowie für die verwaltungsgerichtlichen Verfahren gleichlautende Vorschrift des § 100 Abs. 1 VwGO: Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, § 100, Randnr. 6; Redekerv. Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, § 100, Nr. 7; Klinger, Verwaltungsgerichtsordnung, § 100, Anm. C; Koehler, Verwaltungsgerichtsordnung, § 100, Anm. 5).

Der Bf. ist auch berechtigt, die Beschwerde im eigenen Namen zu erheben, da er von der Entscheidung der Vorinstanz unmittelbar betroffen wird; er macht nämlich die Verletzung eines eigenen Rechts als bevollmächtigter Rechtsanwalt geltend (so auch Beschluß des Verwaltungsgerichthofs München 145 III 66 vom 12. Oktober 1966, Anwaltsblatt 1967 S. 158).

Dem Bf. steht nach § 78 Abs. 1 FGO das Recht auf Akteneinsicht zu. Dieses Recht erstreckt sich nicht nur auf die beim Gericht erwachsenen Akten, sondern auch auf die dem FG unter Beachtung des § 22 AO gemäß § 71 Abs. 2 FGO vorgelegten Akten (§ 78 Abs. 1 FGO) mit Ausnahme der in § 78 Abs. 2 FGO erwähnten Aktenteile (siehe Ziemer-Birkholz, Finanzgerichtsordnung, § 78 Anm. 6, 7; Kühn, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 78 FGO, Anm. 1 und 2); das sind im Streitfall die HGA-Akten. Es bedarf daher entgegen der Meinung der Vorinstanz keiner Auslegung des Antrags des Bf. auf Überlassung der "Gerichtsakten."

Das Recht auf Akteneinsicht beschränkt sich aber grundsätzlich auf Akteneinsicht bei der Geschäftsstelle des Gerichts (Ziemer-Birkholz, Finanzgerichtsordnung, § 78, Anm. 8; sowie für die entsprechende Vorschrift im § 100 Abs. 2 Satz 1 VwGO: Eyermann-Fröhler, § 100, Randnr. 4; Koehler, Verwaltungsgerichtsordnung, § 100, IV, 1; Klinger, Verwaltungsgerichtsordnung, § 100 Anm. A 4). Für das Zivilprozeßrecht, für das in § 299 ZPO eine entsprechende Vorschrift über das Recht der Akteneinsicht enthalten ist wie in § 78 FGO, hat sich der BGH der in der zivilprozeßrechtlichen Literatur vertretenen Auffassung angeschlossen, daß die Akteneinsicht grundsätzlich an Gerichtsstelle zu erfolgen habe. In seinem Urteil III ZR 191/59 vom 12. Dezember 1960 (a. a. O.) hat der BGH ausdrücklich darauf hingewiesen, daß trotz der Stellung des Rechtsanwalts als Organ der Rechtspflege diesem kein Recht auf Überlassung von Gerichtsakten in seine Wohnung oder in seine Kanzleiräume zustehe. Der BGH führt zur Begründung seiner ablehnenden Auffassung insbesondere noch an, daß die Übersendung bzw. Aushändigung der Akten, namentlich, wenn sie wiederholt und in größerem Umfang erfolgen müßte, nicht nur zu der Gefahr des Verlustes der Akten und Aktenteile führen könne, sondern auch zu sonstigen Unzuträglichkeiten, Hemmnissen und Erschwernissen in beträchtlichem Ausmaß. Auch könne § 100 Abs. 2 Satz 2 VwGO, der die Überlassung von Akten an den Anwalt vorsieht, nicht als Ausnahme von der Regel, sondern als eine Bestätigung dessen aufgefaßt werden, daß dem Anwalt eine Befugnis, die Aktenübersendung in seine auswärtigen Wohn- oder Geschäftsräume zu verlangen, grundsätzlich nicht zustehe. Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung in vollem Umfang an.

Auch aus der Entstehungsgeschichte des § 78 FGO ist zu entnehmen, daß den Rechtsanwälten kein Sonderrecht auf Aktenüberlassung eingeräumt werden sollte. Aus der Begründung zu § 75 des Entwurfs 1963 zur FGO und der Stellungnahme der Bundesregierung zu § 78 FGO (Bundestagsdrucksache IV/1446) ergibt sich, daß bewußt von einer Bevorzugung der Rechtsanwälte gegenüber anderen als Bevollmächtigte in Betracht kommenden Berufsgruppen abgesehen werden sollte. Der Senat hält diese Begründung für sachlich gerechtfertigt und vermag ebensowenig wie der BGH im Urteil III ZR 191/59 vom 12. Dezember 1960 (a. a. O.) hierin eine Beeinträchtigung der Stellung des Anwalts als Organ der Rechtspflege anzuerkennen. Mangels einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung muß daher davon ausgegangen werden, daß dem Rechtsanwalt kein Recht auf Überlassung von Akten in seine Wohn- oder Praxisräume zusteht (ebenso: Schunck-De Clerck, Verwaltungsgerichtsordnung, § 100, Anm. 1 f.; Görg-Müller, Finanzgerichtsordnung, § 78, Randnr. 412; anderer Ansicht: Redeker-v. Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, § 100 Anm. 5).

Trotz fehlender entsprechender gesetzlicher Vorschrift wird es jedoch - ähnlich wie im Zivilprozeßrecht (§ 299 ZPO) - für zulässig erachtet, daß das Gericht nach seinem Ermessen den vertretungsberechtigten Personen die Akten zur Einsicht überlassen kann. Der Senat vermag jedoch keine fehlerhafte Ermessensausübung durch die Vorinstanz festzustellen. Das FG hatte die HGA-Akten an das FA des Wohnsitzes des bevollmächtigten Anwalts geschickt und den Bf. hiervon verständigt mit dem Anheimgeben, dort die Akten einzusehen. Hierdurch wurde dem Bf. eine Reise zur Geschäftsstelle des FG erspart. Hierbei ist es für die hier zu treffende Entscheidung unbeachtlich, daß die Vorinstanz ihre Ablehnung der Aushändigung der Akten an den bevollmächtigten Anwalt u. a. damit begründete, das FA sei Herr der Akten geblieben und habe die Zustimmung zur Aushändigung der Akten verweigert. Einer solchen Zustimmung hätte es nur bedurft, wenn es sich um nach § 86 FGO beigezogene Akten gehandelt hätte. Im Streitfall handelt es sich aber um gemäß § 71 Abs. 2 FGO vorgelegte Akten, für die die Einschränkung nach § 86 FGO nicht gilt. Außerdem hat die Vorinstanz ihre Entscheidung in erster Linie auf andere Gründe (Verlust von Akten) gestützt, die nach den vorstehenden Ausführungen im Zusammenhang mit den übrigen Erwägungen geeignet sind, die Ablehnung des Antrags zu rechtfertigen. Ein Ermessensfehlgebrauch des FG durch Ablehnung des Antrags des Bf. auf Aushändigung der Akten könnte im übrigen nur angenommen werden, wenn es sich um eine willkürliche Handhabung gehandelt hätte und sich die Fehlerhaftigkeit jedem sachlichen Beobachter ohne weiteres aufdrängen würde (so auch BGH III ZR 219/53 vom 21. März 1955 und III ZR 191/59 vom 12. Dezember 1960, a. a. O.). Hiervon kann jedoch im Streitfall keine Rede sein. Die Beschwerde hat daher keinen Erfolg.

 

Fundstellen

Haufe-Index 412785

BStBl II 1968, 82

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