Leitsatz (amtlich)

Zur Inanspruchnahme des Haftenden bei Zahlungsunfähigkeit des Steuerschuldners.

 

Normenkette

AO § 118 S. 1; StAnpG §§ 2, 7; KVStG 1959 § 6 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2, § 10 Abs. 2

 

Tatbestand

Die Kläger beteiligten sich in den Monaten Juni oder Juli 1965 mit je 100 000 DM als Kommanditisten an einer Kommanditgesellschaft, deren persönlich haftende Gesellschafterin eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung war. Diese ist aufgelöst, nachdem am 8. Februar 1967 ein Konkursantrag gegen sie mangels Masse abgelehnt worden war. Sie war zwischen Juli 1965 und November 1965 vom FA darauf hingewiesen worden, daß es sich die Festsetzung der Gesellschaftsteuer vorbehalte.

Das FA (Beklagter) hat teils im Oktober 1969, teils im April 1970 jeden der Kläger wegen einer Gesellschaftsteuerschuld von je 2 500 DM in Haftung genommen. Das FG hat die Bescheide (und die Einspruchsentscheidungen) aufgehoben, weil es in der Inanspruchnahme der Kläger einen Ermessenverstoß sah und die Haftungsansprüche für verwirkt hielt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist begründet.

Die Gesellschaftsteuerschuld in Höhe von je 2 500 DM (§ 9 Abs. 1, § 8 Nr. 1 bzw. Nr. 2 KVStG 1959) ist als solche der Gesellschaft mit beschränkter Haftung (§ 10 Abs. 1, § 5 Abs. 1 Nr. 3 KVStG) unter Haftung der Kläger (§ 10 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 KVStG 1959) gemäß § 2 Nr. 1 oder Nr. 2, § 6 Abs. 1 Nr. 4 KVStG 1959 entstanden, nachdem diese ihre Einlagen (§ 161 Abs. 1 HGB) bei ihrem Eintritt in die Kommanditgesellschaft (vgl. Urteil des BFH vom 24. Juli 1972 II R 69/71, BFHE 107, 58, BStBl II 1972, 907) oder später (vgl. BFH-Urteil vom 21. Oktober 1969 II 141/65, BFHE 97, 320, BStBl II 1970, 99) geleistet haben; dem steht nicht entgegen, daß im Zeitpunkt der Entstehung der Steuerschuld (§ 3 Abs. 1 StAnpG) die Ansicht vorherrschte, § 6 Abs. 1 Nr. 4 KVStG a. F. sei nichtig (BFH-Urteil vom 21. Juli 1971 II R 6/71, BFHE 104, 12, BStBl II 1972, 125).

Die Inanspruchnahme der Kläger (§ 118 AO) auf Grund ihrer Haftung (§ 10 Abs. 2 KVStG) war weder ein Ermessensmißbrauch (§ 2 StAnpG) noch war der Haftungsanspruch verwirkt.

Die Kläger sind der Ansicht, gemäß § 7 Abs. 1 StAnpG seien nur die "Personen, die dieselbe steuerrechtliche Leistung schulden", und diejenigen, welche "nebeneinander für dieselbe steuerrechtliche Leistung haften", je unter sich echte Gesamtschuldner; nur innerhalb dieser Personengruppen sei das FA in den Grenzen der "Billigkeit und Zweckmäßigkeit" (§ 2 Abs. 2 StAnpG) "frei, an welchen Gesamtschuldner es sich halten will" (§ 7 Abs. 3 Satz 2 StAnpG). Das kann dahingestellt bleiben. Zwar folgt für das unechte Gesamtschuldverhältnis (vgl. § 7 Abs. 3 Satz 1 StAnpG) zwischen dem eigentlichen Steuerschuldner (§ 97 Abs. 1 AO) und demjenigen, der für dessen Schuld nur haftet, aus der Gegenüberstellung von Schuld und Haftung zwangsläufig die Regel, daß zunächst der Steuerschuldner in Anspruch zu nehmen ist (BFH-Urteil vom 27. März 1968 II 98/62, BFHE 91, 434 [436], BStBl II 1968, 376), der Haftende dagegen nur aus besonderem Grunde (sofern ihm nicht in einer besonderen Vorschrift die Entrichtung der Steuer auferlegt ist). Ist ein solcher besonderer Grund gegeben, bedarf es aber nicht der vorherigen Inanspruchnahme des Steuerschuldners (vgl. BFH-Urteil vom 11. Mai 1966 II 171/63, BFHE 86, 252 [257], BStBl III 1966, 400) und nicht einmal stets einer Festsetzung gegen diesen.

Im vorliegenden Falle geht es indessen nicht um die Alternative, ob das FA die entstandenen Steuern gegen deren Schuldnerin oder gegen die Haftenden geltend macht. Denn im Zeitpunkt der Festsetzung gegen die Kläger war die Gesellschaft mit beschränkter Haftung, welche die Steuer schuldete, bereits im Handelsregister gelöscht. Von ihr waren die Steuerbeträge nicht mehr zu erlangen. Dem Beklagten war folglich keine Wahl geblieben; er mußte die Kläger in Anspruch nehmen, sofern er es unter den Umständen der Einzelfälle durfte. Somit ist nicht über die Ausübung des Ermessens (§ 2 StAnpG) bei der Auswahl des jeweils in Anspruch zu Nehmenden zu befinden, sondern darüber, ob es im gegebenen Zeitpunkt und unter den gegebenen Umständen noch zulässig war, die Haftung der Kläger (§ 10 Abs. 2 KVStG) geltend zu machen (§ 118 AO).

Eine Vorschrift, die neben der Steuerschuld noch eine Haftung für diese begründet, hat nur Sinn unter dem Gesichtspunkt, daß in bestimmten Fällen entweder die Zahlung vom Steuerschuldner nicht oder nur schwer zu erlangen ist, oder daß zumindest die Festsetzung gegen diesen - etwa wegen des Erfordernisses öffentlicher Zustellung - erschwert ist. Eine Vorschrift über die Haftung Dritter muß also in Kauf nehmen, daß der Haftende das, was er zu leisten hat, vom Schuldner u. U. nicht erstattet erhält. Die Härte, welche darin für den Haftenden liegt, kann, soweit sie notwendige Folge des Haftungstatbestandes ist, die Inanspruchnahme des Haftenden nicht hindern; unter welchen Voraussetzungen zusätzliche, nicht tatbestandsnotwendige Tatsachen eine Inanspruchnahme als unbillige Härte im Sinne des § 131 AO erscheinen lassen könnten (BFH-Urteil vom 7. Mai 1968 II 151/64, BFHE 93, 14, BStBl II 1968, 663), ist hier nicht zu prüfen (BFH-Urteil vom 22. Oktober 1971 II R 104/70, BFHE 103, 541 [544], BStBl II 1972, 183).

Dieser Standpunkt schließt nicht aus, daß ein Haftungsanspruch verwirkt sein kann, wenn ein FA erst nach längerer Zeit an den Haftenden herantritt. Zwar wird die zeitliche Grenze für die Geltendmachung eines Steueranspruchs grundsätzlich durch die Vorschriften über die Verjährung gezogen und kann eine Verwirkung nur unter besonderen Umständen angenommen werden (BFH-Urteil vom 14. Februar 1967 II 15/64, BFHE 88, 42). Auch für die Haftung gilt nichts grundsätzlich anderes. Bei ihr liegen aber die Umstände, die als "besondere" zu würdigen sind, nicht ganz gleich. Denn kaum anders als im bürgerlichen Recht (vgl. Urteil des Reichsgerichts vom 4. Juni 1937 VII/36, RGZ 155, 148 [151 ff.]) wird auch im Steuerrecht die Verwirkung aus einem Verhalten des Forderungsberechtigten abgeleitet, auf Grund dessen sich der Verpflichtete nach Treu und Glauben darauf einrichten durfte, daß er mit der Geltendmachung der Forderung nicht mehr zu rechnen brauche (BFH-Urteil vom 14. November 1968 V 191/65, BFHE 94, 168 [172 ff.], BStBl II 1969, 120). Diese Erwartung kann der Steuerschuldner nicht schon daraus ableiten, daß die Forderung innerhalb der Verjährungsfrist längere Zeit nicht gegen ihn geltend gemacht wurde; andernfalls würden die Vorschriften über die Verjährung gegenstandslos. Der Haftende dagegen wird sich eben wegen der Nachrangigkeit seiner Haftung eher darauf verlassen dürfen, daß ihm das FA unverzüglich Nachricht geben würde, falls es ihn statt des Steuerschuldners in Anspruch nehmen wollte. Damit ist aber nicht gesagt, daß der Haftende bei Ausbleiben dieser Nachricht stets diesen Schluß ziehen kann und darf. Da der Einwand der Verwirkung nur aus Treu und Glauben begründet ist, findet er auch seine Grenzen in Treu und Glauben.

Ist dem Haftenden bekannt, daß der Erhebung der Steuer Hindernisse entgegenstehen, kann er nicht annehmen, daß die Steuerschuld gegen den Steuerschuldner festgesetzt und erforderlichenfalls beigetrieben wird. Er kann daher aus dem Schweigen des FA keine weitergehenden Schlüsse ziehen als der Steuerschuldner selbst; er kann nicht folgern, daß das Schweigen des FA als Verzicht auf die Haftung zu deuten sei.

Ein solcher Schluß ist um so weniger angebracht, wenn der Haftende weiß, daß der Steuerschuldner in Vermögensverfall geraten ist. Treu und Glauben könnten in diesem Falle zwar die Inanspruchnahme aus Haftung hindern, wenn das FA die rechtzeitige Inanspruchnahme des Steuerschuldners versäumt hätte, oder allenfalls noch, wenn der Haftende Gründe gehabt hätte, anzunehmen, daß die Steuer vom Schuldner längst gezahlt sei, oder sie bei ordnungsgemäßem Ablauf hätte gezahlt sein müssen, und wenn ihn das FA trotzdem nicht rechtzeitig auf seine mögliche Inanspruchnahme hingewiesen hätte. Der Gesichtspunkt von Treu und Glauben ermöglicht aber nicht, das Institut der Haftung im ganzen zu erschüttern. Dieses hat die nach dem geltenden Recht mehr oder weniger zwangsläufige Folge, daß der Schriftwechsel über die Steuerfestsetzung zunächst mit dem Steuerschuldner geführt wird, und erst dann Anlaß besteht, an den Haftenden heranzutreten, wenn mit seiner Inanspruchnahme ernstlich zu rechnen ist.

Nicht grundsätzlich anders ist es, wenn die der Erhebung der Steuer entgegenstehenden Hindernisse dem Haftenden nicht beweisbar bekannt waren, wohl aber den Umständen nach hätten bekannt sein müssen. Nach Treu und Glauben kann er sich auf seine Unkenntnis, mit der das FA nicht zu rechnen brauchte, nicht berufen. Darum kann dahingestellt bleiben. ob den Klägern die Zweifelhaftigkeit der Rechtslage um § 6 Abs. 1 Nr. 4 KVStG a. F. und der Vermögensverfall der Gesellschaft mit beschränkter Haftung bekannt waren. Da die Kommanditgesellschaft, deren Kommanditisten sie waren, eine Personengesellschaft ist (war), hätte es bei den Klägern als Mitgesellschaftern gelegen, sich über die Vermögensverhältnisse des persönlich haftenden Gesellschafters zu unterrichten. Denn die Geschäfte der Kommanditgesellschaft wurden auch in ihrem Namen geführt (§§ 161, 19, 17 HGB), obschon sie nur beschränkt hafteten (§§ 161, 171 HGB) und auf die Geschäftsführung keinen wesentlichen Einfluß hatten (§§ 170, 164, 166 HGB). Von Rechts wegen jedenfalls standen die Kläger zu dem persönlich haftenden Gesellschafter der Kommanditgesellschaft in einem unmittelbaren Gesellschaftsverhältnis; daß dessen tatsächliche Ausgestaltung dem widersprochen haben mag, können sie Dritten nicht entgegenhalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 70461

BStBl II 1973, 573

BFHE 1973, 164

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