Entscheidungsstichwort (Thema)

Absoluter Revisionsgrund bei Ladung zur mündlichen Verhandlung nur des vollmachtlosen Vertreters - vor Zustellung des FG-Urteils eingelegte Revision zulässig

 

Leitsatz (amtlich)

1. Wird die Ladung zur mündlichen Verhandlung lediglich dem vollmachtlosen Vertreter, nicht aber dem Kläger als angeblich Vertretenen zugestellt, so liegt hierin ein Fall der mangelnden Vertretung des Klägers "nach Vorschrift des Gesetzes" i.S. der §§ 116 Abs.1 Nr.3, 119 Nr.4 FGO.

2. Ein Beteiligter ist dann ordnungsgemäß vertreten, wenn ein Bevollmächtigter für ihn auftritt, der es lediglich versäumt, dem FG die auf ihn ausgestellte schriftliche Vollmacht vorzulegen. Es fehlt in einem solchen Fall aber an einer wirksamen Bevollmächtigung, wenn diese Vollmacht im Laufe des Verfahrens widerrufen worden ist. Eines Widerrufs der Vollmacht auch dem FG gegenüber bedarf es unter diesen Umständen nicht.

 

Orientierungssatz

Ist ein Urteil verkündet worden und mithin wirksam geworden, muß auch eine vor der förmlichen Zustellung eingelegte Revision als innerhalb der Revisionsfrist eingelegt angesehen werden (vgl. BFH-Urteil vom 4.7.1984 II R 188/92).

 

Normenkette

FGO § 62 Abs. 3, § 116 Abs. 1 Nr. 3, § 119 Nr. 4

 

Tatbestand

I. Steuerberater W hat am 22. Mai 1992 für den Kläger und Revisionskläger (Kläger) gegen die Bescheide des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) über Einkommensteuer, Umsatzsteuer und Gewerbesteuermeßbetrag 1989 Klage erhoben, diese aber nicht näher begründet. Er hat auch keine Prozeßvollmacht vorgelegt. Das Finanzgericht (FG) hat die Klage deshalb als unzulässig abgewiesen. Das Urteil wurde am 1. September 1992 im Anschluß an die mündliche Verhandlung verkündet und Steuerberater W am 15. September 1992 zugestellt. In der mündlichen Verhandlung am 1. September 1992 war für den Kläger niemand erschienen. Das FG hatte --am 10. August 1992-- lediglich Steuerberater W, nicht aber den Kläger zur Verhandlung geladen.

Mit seiner am 13. August 1993 eingelegten Revision rügt der Kläger Verletzung von § 116 Abs.1 Nr.3 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Er sei nicht ordnungsgemäß vertreten gewesen. Steuerberater W sei zur Erhebung der Klage nicht beauftragt worden. Zwar sei ihm durch schriftliche Vollmacht vom 18. September 1984 das allgemeine steuerliche Mandat erteilt worden. Diese Vollmacht sei aber am 12. Juni 1992 erloschen und zu diesem Zeitpunkt auch dem FA gegenüber widerrufen worden. Eines Widerrufs auch dem FG gegenüber habe es nicht bedurft, da dem FG nicht einmal die Vollmacht zugegangen gewesen sei. Im übrigen habe ihn diese Vollmacht lediglich dazu berechtigt, "Rechtsbehelfe einzulegen oder zurückzunehmen" und damit allenfalls, die Klage beim FA anzubringen. Vor dem FG sei eine besondere Prozeßvollmacht nach § 62 FGO erforderlich. Eine solche sei ihm nicht erteilt worden und habe folglich nicht vorgelegt werden können.

Der Kläger beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Die Revision sei verspätet eingelegt worden. Im übrigen habe der Kläger Steuerberater W ursprünglich eine allgemeine steuerliche Vollmacht erteilt, die auch zur Prozeßführung ermächtige. Diese Vollmacht bleibe solange wirksam, bis ihr Widerruf gegenüber dem Gericht angezeigt werde.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist zulässig. Sie ist insbesondere innerhalb der in § 120 Abs.1 FGO bestimmten Revisionsfrist eingelegt worden. Dabei ist unerheblich, daß das FG das Urteil lediglich Steuerberater W als nicht nach § 62 FGO bevollmächtigtem Vertreter und nicht dem Kläger selbst zugestellt hat. Da das Urteil verkündet worden und mithin wirksam geworden ist, muß auch eine vor der förmlichen Zustellung eingelegte Revision als innerhalb der Revisionsfrist eingelegt angesehen werden (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 4. Juli 1984 II R 188/82, BFHE 142, 3, BStBl II 1984, 831; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14.Aufl., § 120 FGO Tz.11; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3.Aufl., § 120 Rdnr.12).

Die Revisionsfrist war zur Zeit der Revisionseinlegung noch nicht abgelaufen. Die Frist endet gemäß § 120 Abs.1 FGO innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils. Da das Urteil dem Kläger bislang nicht zugestellt worden ist, ist diese Frist gewahrt. Die Zustellung des Urteils an Steuerberater W muß der Kläger sich nicht zurechnen lassen; sie ist ihm gegenüber nicht wirksam. Zustellungen sind nach § 62 Abs.3 Satz 3 FGO a.F. an einen Vertreter zu richten, wenn dieser zum Bevollmächtigten bestellt worden ist. Bestellt im Sinne dieser Vorschrift ist ein Bevollmächtigter nur dann, wenn die ihm schriftlich erteilte Vollmacht dem FG vorliegt.

Das ergibt sich aus § 62 Abs.3 Sätze 1 und 2 FGO a.F., wonach die Vollmacht schriftlich zu erteilen ist (BFH-Urteil vom 15. Mai 1981 VI R 212/78, BFHE 133, 344, BStBl II 1981, 678; Gräber/Koch, a.a.O., § 62 Rdnr.27). Dem FG hat bis zur Zustellung des Urteils an den Steuerberater keine auf diesen lautende Vollmacht des Klägers vorgelegen.

2. Die Revision ist auch begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Die vom Kläger erhobene Rüge stellt einen wesentlichen Mangel i.S. des § 119 Nr.4 FGO dar. Der Kläger war im Klageverfahren vor dem FG nicht ordnungsgemäß vertreten, da das FG lediglich den Steuerberater als vollmachtlosen Vertreter zur mündlichen Verhandlung geladen hat.

Ein Verfahrensmangel i.S. von § 119 Nr.4 FGO liegt auch vor, wenn der Beteiligte in gesetzeswidriger Weise im Verfahren nicht vertreten war, weil das Gericht bei der Vorbereitung und Durchführung der mündlichen Verhandlung den Vorschriften des Gesetzes nicht genügt und dadurch den Beteiligten die Teilnahme unmöglich gemacht hat (z.B. BFH-Urteil vom 10. August 1988 III R 220/84, BFHE 154, 17, BStBl II 1988, 948). An der Vertretung fehlt es vor allem dann, wenn der Kläger nicht ordnungsgemäß geladen worden ist. Dies ist der Fall, wenn die Ladung nur dem vollmachtlosen Vertreter, nicht aber dem angeblich Vertretenen als Beteiligten zugestellt wird (vgl. auch Tipke/Kruse, a.a.O., § 116 FGO Tz.17; siehe auch Grunsky in Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 20. Aufl., § 551 II Rdnr.16). Dieser war dann gehindert, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen.

Ohne Bevollmächtigung in diesem Sinne handelt allerdings nicht ein zur Prozeßführung Bevollmächtigter, der es lediglich versäumt, die schriftliche Vollmacht gemäß § 62 Abs.3 Satz 1 FGO vorzulegen (BFH-Beschluß vom 27. Juli 1990 VIII R 1/90, BFH/NV 1991, 254). So verhält es sich im Streitfall jedoch nicht. Zwar war dem Steuerberater W am 18. September 1984 vom Kläger eine schriftliche Vollmacht erteilt worden, ihn "vor" dem beklagten FA "in allen steuerlichen Angelegenheiten zu vertreten, insbesondere auch Rechtsbehelfe einzulegen". Der Senat kann offenlassen, ob Steuerberater W hierdurch lediglich zur Erhebung außergerichtlicher Rechtsbehelfe berechtigt war oder ob sich die Vollmacht auch auf Klageverfahren vor den FG erstreckte (vgl. dazu z.B. BFH-Urteil vom 10. August 1976 VII R 95/75, BFHE 119, 391, BStBl II 1976, 689). Die Vollmacht ist jedenfalls nur dem FA gegenüber erteilt und auch nur diesem gegenüber am 12. Juni 1992 widerrufen worden. Damit aber war sie seitdem nicht mehr wirksam und hätte dem FG nicht mehr vorgelegt werden können. Im Zeitpunkt der Ladung zur mündlichen Verhandlung und in der mündlichen Verhandlung fehlte Steuerberater W die Vertretungsmacht; der Kläger war unvertreten.

3. Das angefochtene Urteil ist hiernach aufzuheben, weil unwiderleglich vermutet wird, daß es auf der nicht ordnungsgemäßen Vertretung beruht (vgl. § 119 Nr.4 FGO).

 

Fundstellen

Haufe-Index 65344

BFH/NV 1994, 65

BStBl II 1994, 661

BFHE 174, 304

BFHE 1995, 304

BB 1994, 1491

BB 1994, 2197

BB 1994, 2197 (LT)

DB 1994, 1556 (L)

DStR 1994, 1118-1119 (KT)

DStZ 1995, 119-120 (K)

HFR 1994, 605-606 (KT)

StE 1994, 433 (K)

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