Leitsatz (amtlich)

Konnte ein Steuerpflichtiger den Verlustabzug nach § 10d EStG wegen der Rechtsprechung des BFH über das Verhältnis eines steuerfreien Sanierungsgewinns zum Verlustausgleich und zum Verlustabzug nicht rechtzeitig vornehmen, so kann er nach Änderung der genannten Rechtsprechung im Beschluß Gr. S. 2/67 vom 15. Juli 1968 (BFH 93, 75, BStBl II 1968, 666) den Verlustabzug frühestmöglich innerhalb des Fünfjahreszeitraums des § 10d EStG nachholen (Abweichung von den Grundsätzen des BFH-Urteils VI 188/64 U vom 19. November 1965, BFH 84, 433, BStBl III 1966, 156).

 

Normenkette

EStG § 10d

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Revisionskläger (Steuerpflichtigen) für 1967 Anspruch auf Verlustabzug nach § 10d EStG haben. Die Steuerpflichtigen sind Eheleute und werden zusammenveranlagt.

Im Jahre 1963 erlitt der steuerpflichtige Ehemann einen Verlust aus Gewerbebetrieb in Höhe von 54 667 DM. Bei der Veranlagung der Steuerpflichtigen 1964 wurden 15 649 DM dieses Verlustes nach § 10d EStG berücksichtigt. Es verblieb ein vortragsfähiger Restverlust 1963 von 39 018 DM.

1965 erzielte der steuerpflichtige Ehemann bei Beendigung des Konkursverfahrens über seinen Gewerbebetrieb durch Zwangsvergleich unstreitig einen steuerfreien Sanierungsgewinn von 113 223 DM. Daneben hatten die steuerpflichtigen Eheleute 1965 ein positives Einkommen von 18 040 DM, 1966 ein solches von 24 579 DM. 1967 betrug ihr Einkommen 26 537 DM. In Höhe dieses Betrags beanspruchen sie den Abzug des Restverlustes 1963 (39 018 DM), der im Jahre 1965 nach der damals geltenden Rechtsprechung des BFH mit dem steuerfreien Sanierungsgewinn verrechnet worden war und auch 1966 im Hinblick auf diese Rechtsprechung nicht geltend gemacht wurde. Die Veranlagungen 1965 und 1966 sind rechtskräftig.

FA und FG lehnten das Begehren der Steuerpflichtigen ab. Ausgehend von der ständigen Rechtsprechung des RFH und des BFH, wonach ein Abzug des Verlustes nach § 10d EStG so frühzeitig wie möglich geltend gemacht werden müsse, führte das FG aus. Die Änderung der Rechtsprechung über das Verhältnis des steuerfreien Sanierungsgewinns zum Verlustausgleich und Verlustabzug durch den Beschluß des Großen Senats des BFH Gr. S. 2/67 vom 15. Juli 1968 (BFH 93, 75, BStBl II 1968, 666), wonach eine Verrechnung eines laufenden oder vorjährigen Verlustes mit einem steuerfreien Sanierungsgewinn nicht Rechtens sei, führe dazu, davon auszugehen, daß die Steuerpflichtigen den Verlustabzug in den Jahren 1965 und 1966 hätten in Anspruch nehmen müssen. Dies entspreche den Grundsätzen des BFH-Urteils VI 188/64 U vom 19. November 1965 (BFH 84, 433, BStBl III 1966, 156), wonach der Erbe einen Verlust des Erblassers nicht deshalb in einem späteren Veranlagungszeitraum in Anspruch nehmen könne, weil er an einer früheren Geltendmachung nach dem zu dieser Zeit geltenden Stand der Rechtsprechung, die den Verlustabzug des Erben - ausgenommen die Fälle, in denen der Erbe mit dem Erblasser zusammenveranlagt worden war - als unzulässig ansah, gehindert war. Beide Fälle lägen im Prinzip gleichartig. Denn in beiden Fällen sei die Rechtsprechung über den Verlustabzug nachträglich geändert worden. Die Frage der Möglichkeit des Verlustabzugs auf Grund der Änderung der Rechtsprechung sei eine materiell-rechtliche Frage, die nach der geänderten Rechtsprechung zu entscheiden sei. Danach aber sei den Steuerpflichtigen der Verlustabzug in den Streitjahren 1965 und 1966 möglich gewesen. Da er nicht vorgenommen worden sei, sei er verbraucht.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision der Steuerpflichtigen führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und der Einspruchsentscheidung und zur Festsetzung der Einkommensteuer 1967 auf null DM.

Die Vorentscheidung geht zutreffend davon aus, daß die geänderte Rechtsprechung über das Verhältnis des steuerfreien Sanierungsgewinns zu einem laufenden oder zu einem vorjährigen Verlust im Streitfall auf die bereits rechtskräftig veranlagten Jahre 1965 und 1966 anzuwenden ist, wenn zu entscheiden ist, ob der im Jahre 1967 geltend gemachte Verlustvortrag verbraucht ist. Denn die Änderung einer Rechtsprechung besagt, daß die bisherige Rechtsprechung unzutreffend war, so daß die geänderte Rechtsprechung auf alle Fälle anzuwenden ist, die für eine laufende Besteuerung noch Bedeutung haben. In der Regel sind dies Fälle noch nicht rechtskräftig veranlagter Veranlagungszeiträume. Bei der Frage, ob ein Verlustabzug in einem späteren Jahre innerhalb des Fünfjahreszeitraums des § 10d EStG noch möglich ist, muß die geänderte Rechtsprechung aber auch bei Prüfung der Frage zugrunde gelegt werden, ob in einem früheren, bereits rechtskräftigen Veranlagungsgzeitraum der später geltend gemachte Verlustvortrag schon verbraucht ist. Dabei geht auch der erkennende Senat davon aus, daß der Verlustabzug frühestmöglich zu berücksichtigen ist. Auf diesen Grundsätzen beruht offenbar auch das von der Vorinstanz zitierte BFH-Urteil vom 19. November 1965 (a. a. O.), wenn es meint, der Erbe hätte den Verlust bereits bei der Veranlagung 1958 geltend machen können, obwohl diese Möglichkeit durch Änderung der Rechtsprechung erst durch das Urteil des BFH VI 49/61 S vom 22. Juni 1962 (BFH 75, 328, BStBl III 1962, 386) anerkannt wurde. Eine Berichtigungsveranlagung darf auf eine Änderung der Rechtsprechung jedoch nicht gegründet werden (§ 222 Abs. 2 AO).

Der Senat vermag aber der Auffassung des genannten Urteils und der Vorinstanz nicht zu folgen, daß bei einer Sachlage wie der vorliegenden dem Steuerpflichtigen ein endgültiger Rechtsverlust entsteht. Es darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß die Steuerpflichtigen in den Jahren 1965 und 1966 auf Grund einer nachträglich als unzutreffend erkannten Rechtsprechung den Verlustabzug gar nicht durchführen konnten. Es war ihnen unter Berücksichtigung der Jahrzehnte währenden Rechtsprechung des RFH und des BFH, wonach Verluste durch einen steuerfreien Sanierungsgewinn aufgezehrt werden und nicht mehr für einen Verlustausgleich oder Verlustabzug mit anderen steuerpflichtigen Einkommen zur Verfügung stehen, nicht zuzumuten, ihre Veranlagungen 1965 und 1966 durch Einlegung von Rechtsmitteln offenzuhalten. Noch in den Entscheidungen des BFH VI 117/62 U vom 22. November 1963 (BFH 78, 325, BStBl III 1964, 128) sowie I 264/62 U vom 9. November 1965 (BFH 86, 34, BStBl III 1966, 383) hielt der BFH an dieser Rechtsprechung fest. Die Steuerpflichtigen unter diesen Umständen an die gedankliche Konstruktion der Geltung der geänderten Rechtsprechung auch für die rechtskräftig gewordenen Veranlagungen 1965 und 1966 zu binden, die sie, ohne die Absicht der Erschleichung ungerechtfertigter Steuervorteile gar nicht verwirklichen konnten, erscheint dem Senat unbillig. Es ist vielmehr gerechtfertigt, im Wege einer billigen Gesetzesauslegung in Ausnahmefällen wie dem vorliegenden, dem Steuerpflichtigen zu gestatten, den Verlustabzug innerhalb des noch laufenden Fünfjahreszeitraums des §10d EStG für einen Veranlagungszeitraum geltend zu machen, für den er es auf Grund der geänderten Rechtsprechung frühestmöglich kann.

Der Senat sieht einen vergleichbaren Fall im BFH-Urteil IV 83/64 U vom 20. August 1964 (BFH 81, 302, BStBl III 1965, 110) über die nachträgliche Teilwertabschreibung an einem entwerteten Apothekenrealrecht beim Verpächter. Nach den Grundsätzen des BFH-Urteils VI 3/60 S vom 9. Dezember 1960 (BFH 72, 422, BStBl III 1961, 155) konnte der Verpächter eines Apothekenrealrechts an diesem keine Teilwertabschreibungen vornehmen, so daß er bei Wiederübernahme der Apotheke in Selbstbewirtschaftung das Realrecht mit dem durch die Niederlassungsfreiheit geminderten Wert in seine Anfangsbilanz einsetzen mußte. Er verlor die Abschreibung. Auf Grund des Urteils des Großen Senats des BFH Gr. S. 1/63 vom 13. November 1963 (BFH 78, 315, BStBl III 1964, 124), wonach das Apothekenrealrecht beim Verpächter weiterhin als Betriebsvermögen anzusehen war, gewährte das Urteil IV 83/64 U (a. a. O.) die Nachholung der Abschreibung. Es wird ausgeführt, es bestehe keine Veranlassung, einem Steuerpflichtigen, der bisher an einer solchen Teilwertabschreibung ohne sein Verschulden infolge einer feststehenden Rechtsprechung gehindert worden sei, bei dem die Unterlassung der gebotenen Teilwertabschreibung daher auch nicht der Erlangung ungerechtfertigter Steuervorteile oder der Durchführung steuerlicher Schiebungen diene, die Nachholung der Teilwertabschreibung zu versagen. Gleichartige Grundsätze müssen nach Auffassung des Senats für die Entscheidung des vorliegenden Streitfalles gelten. Dabei sei noch darauf hingewiesen, daß im Urteil IV 83/64 U (a. a. O.) auch ausgeführt ist, daß der Ausgleich für einen den Steuerpflichtigen treffenden Nachteil, wenn irgend möglich, schon im Rahmen der rechtlichen Beurteilung gesucht werden müsse. Es ist daher vertretbar, den Steuerpflichtigen den Verlustabzug, wenn auch innerhalb des Fünfjahreszeitraums des § 10d EStG noch nachträglich zu gewähren.

Die Streitsache ist entscheidungsreif. Es kann davon ausgegangen werden, daß der Verlust 1963 auf Grund ordnungsmäßiger Buchführung ermittelt wurde. Denn die Verwaltungsbehörde nahm den Verlustabzug in Höhe des Einkommens 1964 bereits vor. Das war nur zulässig, wenn der Verlust, wie es § 10d EstG fordert, auf Grund ordnungsmäßiger Buchführung nach § 4 Abs. 1 oder nach § 5 EStG ermittelt wurde. Es liegt für den Senat kein Anlaß vor, die Ermittlung des Verlustes 1963 auf Grund ordnungsmäßiger Buchführung in Zweifel zu ziehen.

Die Entscheidung des Senats steht im Widerspruch zum Urteil VI 188/64 U vom 19. November 1965 (a. a. O.). Eine Anrufung des Großen Senats des BFH wegen Divergenz kann nicht erfolgen, da die Entscheidung vom 19. November 1965, von der die Entscheidung des erkennenden Senats abweicht, vor Inkrafttreten der FGO erging und nicht gemäß § 64 AO als eine solche von grundsätzlicher Bedeutung - S-Urteile - veröffentlicht wurde (§ 184 Abs. 2 Nr. 5 FGO).

Aus dem angefochtenen Steuerbescheid ergibt sich, daß das FA Steuerabzugsbeträge auf die Einkommensteuerschuld angerechnet hat. Über die Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen auf die Einkommensteuerschuld gemäß § 47 EStG kann in diesem Verfahren, das nur die Steuerfestsetzung betrifft, nicht mit entschieden werden, weil sie nicht mehr zur Steuerfestsetzung gehört. Insoweit schließt sich der Senat dem BFH-Urteil VI R 68/66 vom 11. November 1966 (BFH 87, 514, BStBl III 1967, 214) an.

 

Fundstellen

Haufe-Index 413119

BStBl II 1972, 345

BFHE 1972, 435

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