Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Steuerfreiheit von Abfindungen zur Abgeltung einer betrieblichen Rentenanwartschaft

 

Leitsatz (amtlich)

Abfindungen zur Abgeltung einer betrieblichen Rentenanwartschaft sind dann nicht steuerfrei, wenn der Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Beendigung des Dienstverhältnisses bereits einen unverfallbaren Anspruch auf spätere Versorgungsleistungen erworben hatte.

 

Orientierungssatz

1. "Abfindungen" wegen einer vom Arbeitgeber veranlaßten Auflösung des Dienstverhältnisses sind solche Zuwendungen, die ein Arbeitnehmer anläßlich der Auflösung des Dienstverhältnisses erhält. Sie sollen Nachteile des Arbeitnehmers aus dem Verhalten des Arbeitgebers ausgleichen und werden aus diesem Grunde in bestimmtem Umfang von der Steuer freigestellt. Davon abzugrenzen sind Beträge, die für die Zeit bis zur Auflösung gezahlt werden. Auf diese Beträge hat der Steuerpflichtige bereits einen Anspruch erworben; sie werden nicht wegen der Auflösung des Dienstverhältnisses gezahlt. In diesen Fällen wird ein vom Arbeitnehmer bereits erdienter Anspruch erfüllt, aber kein Ausgleich für den Verlust des Arbeitsplatzes gewährt (vgl. BFH-Rechtsprechung; Literatur).

2. Der BFH darf die Würdigung eines Vertrags durch das FG daraufhin prüfen, ob das FG die gesetzlichen Auslegungsregeln beachtet und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen hat (vgl. BFH-Rechtsprechung). Sind die Feststellungen des FG unvollständig, müssen sie ergänzt werden, um dem Revisionsgericht die Überprüfung des Auslegungsergebnisses zu ermöglichen. Diese Aufgabe obliegt dem FG (vgl. BFH-Rechtsprechung; Literatur).

 

Normenkette

EStG § 3 Nr. 9; FGO § 118 Abs. 2; BGB §§ 133, 157

 

Verfahrensgang

FG München (Entscheidung vom 21.09.1987; Aktenzeichen XIII 86/85 E)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten, ob eine Abfindung für eine Betriebsrentenanwartschaft gemäß § 3 Nr.9 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes 1983 (EStG) steuerfrei ist.

Der am 1.März 1931 geborene Kläger und Revisionskläger (Kläger) war seit dem 1.Januar 1971 bei der Firma W GmbH (GmbH) als technischer Leiter beschäftigt (Anstellungsvertrag vom 27.Juli 1970); zuvor war er seit dem 1.Januar 1960 für verschiedene Firmen der B-Gruppe tätig, zuletzt vom 1.August 1968 bis 31.Dezember 1970 für die H GmbH, damals eine Tochtergesellschaft der B-GmbH.

Die Altersversorgung des Klägers ist in Nr.7 des Vertrags vom 27.Juli 1970 geregelt. Dort heißt es ―auszugsweise―:

"Altersversorgung:

alternativ.

a) Ihre Altersversorgung richtet sich nach der am 1.7.70

gültigen Ruhegeldzusage Ihrer bisherigen Arbeitgeberin

H, Mitglied der B-Gruppe.

b) Altersrente, beginnend mit dem Ausscheiden des Berechtigten

aus den Diensten der Firma nach Vollendung des 65.

Lebensjahres im Dienste der Firma.

Die Höhe der Versorgungsleistung beträgt 30 % des letzten

Jahreseinkommens. Tantiemen oder andere Zuwendungen außerhalb

des Gehaltes bleiben außer Betracht.

Invalidenrente steht dem Berechtigten an Stelle der

Altersrente zu, wenn der Berechtigte voraussichtlich dauernd

oder mindestens 1 Jahr berufsunfähig ist, ohne vorher aus den

Diensten der Firma ausgeschieden zu sein.

Für den Begriff und die Feststellung der Berufsunfähigkeit

gelten die Bestimmungen des § 1246 Reichsversicherungsordnung

und § 23 Angestelltenversicherungsgesetz.

Die Höhe der Invalidenrente ist von der Dauer der

Betriebszugehörigkeit abhängig und geht bis zur Höhe der

Altersrente.

Bei einer Betriebszugehörigkeit von 5 - 10 Jahren 30 %

11 - 20 Jahren 60 %

über 20 Jahre 100 %

der Altersrente.

(Für Sie werden 5 Jahre angerechnet)

…"

Daneben regelt Nr.7 die Versorgung der Ehefrau, die Gewährung der Versorgungszusage bei erheblicher wirtschaftlicher Verschlechterung der Firma sowie eine Kürzungsmöglichkeit der Versorgungsleistungen bei Überschreiten bestimmter Grenzen.

Die Ruhegeldzusage der H GmbH, auf die in Nr.7a Bezug genommen ist, enthält u.a. folgende Bestimmungen:

"1. Der Anspruch auf Ruhegeld (Alters-, Invaliden- und

Hinterbliebenenrente) setzt voraus, daß Sie bei Eintritt des

Versorgungsfalles mindestens 5 Dienstjahre nach Vollendung

des 30. Lebensjahres bei uns tätig waren. Ihre

anrechnungsfähige Dienstzeit beginnt am 1.3.1961, so daß die

Voraussetzung für den Anspruch auf Ruhegeld bei Ihnen am

1.3.1966 als erfüllt gilt.

2. Scheiden Sie nach Ablauf ihres 65. Lebensjahres oder wegen

Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit aus unseren Diensten aus,

so erhalten Sie ein lebenslängliches Ruhegeld (Alters- oder

Invalidenrente).

4. Das Ruhegeld beträgt nach 5 anrechnungsfähigen Dienstjahren

DM 440 (Grundrente) und erhöht sich mit jedem weiteren

Dienstjahr um DM 22 (Steigerungsbetrag), jedoch höchstens

um 30 Steigerungsbeträge.

…"

Darüber hinaus enthält die Zusage weitere Regelungen über die Versorgung von Ehefrau und Kindern, über die Gewährung von Leistungen bei einer erheblichen wirtschaftlichen Verschlechterung der Firma sowie die Berechtigung zur Einstellung der Leistungen bei Handlungen des Klägers, die gegen Treu und Glauben verstoßen oder zu einer fristlosen Entlassung berechtigen würden.

Über das Vermögen der GmbH wurde im Jahre 1974 der Konkurs eröffnet. Die GmbH kündigte das Arbeitsverhältnis zum 30.September 1974. Auf Grund eines Urteils des Arbeitsgerichts S vom 6.März 1975 wurde festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis bis zum 31.Dezember 1974 fortbestanden hat. Ferner schlossen der Kläger und der Konkursverwalter vor dem Arbeitsgericht am 9.Dezember 1975 einen Vergleich, nach dessen Ziffer 2 sich der Konkursverwalter bereit erklärte, "zur Konkurstabelle mit dem Vorrang aus § 61 Nr.6 der Konkursordnung eine von dem Kläger angemeldete Forderung zur Abgeltung der Ansprüche aus Versorgungszusage einen Betrag bis zu 70 000 DM anzuerkennen."

Im Streitjahr erhielt der Kläger aus der Konkursmasse eine Abfindungszahlung in Höhe von 24 850 DM. Dieser Betrag entspricht 35,5 % der vom Kläger zur Abgeltung des Anspruchs aus der Versorgungszusage angemeldeten Forderung von 70 000 DM.

Bei der Veranlagung versagte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) insoweit die Anwendung des § 3 Nr.9 EStG und erfaßte den Betrag mit dem ermäßigten Steuersatz nach § 34 Abs.1, Abs.2 EStG. Einspruch und Klage blieben erfolglos (vgl. das Urteil des Finanzgerichts ―FG― in Entscheidungen der Finanzgerichte ―EFG― 1988, 285).

Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung des § 3 Nr.9 EStG.

Er beantragt sinngemäß,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils des FG München vom 21.September 1987 XIII 86/85 E und Änderung des Bescheides vom 26.Februar 1991 die Einkommensteuer 1983 unter Berücksichtigung eines steuerfreien Betrages in Höhe von 24 000 DM festzusetzen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet; sie führt gemäß § 126 Abs.3 Nr.2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

1. Der Vorinstanz ist in der Auffassung beizutreten, daß Entschädigungen zur Abgeltung einer betrieblichen Pensionsanwartschaft nur dann Abfindungen i.S. des § 3 Nr.9 EStG sind, wenn die Anwartschaft im Zeitpunkt der Auflösung des Dienstverhältnisses noch verfallbar war (Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, § 3 EStG, Stand Mai 1980, Rdnr.55; Schmidt/Heinicke, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, 9.Aufl., 1990, § 3 "Abfindungen", sub b; Hartz/Meeßen/Wolf, ABC-Führer Lohnsteuer, "Entschädigungen (Abfindungen) wegen Entlassung aus einem Arbeitsverhältnis", Lieferung 12 zur 4.Aufl., Stand August 1985, S.431, 446 ―C IV―; Oeftering/Görbing, Das gesamte Lohnsteuerrecht, Stand Juni 1987, C § 3 Rdnr.25; Kracht, Betriebs-Berater ―BB― 1976, 1452, 1456; Offerhaus, Deutsche Steuerzeitung ―DStZ― 1981, 445, 450; Niermann, Der Betrieb ―DB― 1984, 1855, 1856).

"Abfindungen" wegen einer vom Arbeitgeber veranlaßten Auflösung des Dienstverhältnisses sind solche Zuwendungen, die ein Arbeitnehmer anläßlich der Auflösung des Dienstverhältnisses erhält (Urteile des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 11.Januar 1980 VI R 165/77, BFHE 129, 479, BStBl II 1980, 205; vom 10.Oktober 1986 VI R 178/83, BFHE 148, 257, BStBl II 1987, 186). Sie sollen Nachteile des Arbeitnehmers aus dem Verhalten des Arbeitgebers ausgleichen und werden aus diesem Grunde in bestimmtem Umfang von der Steuer freigestellt. Davon abzugrenzen sind Beträge, die für die Zeit bis zur Auflösung gezahlt werden (vgl. BFH-Urteile vom 17.Mai 1977 VI R 150/76, BFHE 122, 478, BStBl II 1977, 735; vom 13.Oktober 1978 VI R 91/77, BFHE 126, 399, BStBl II 1979, 155). Auf diese Beträge hat der Steuerpflichtige bereits einen Anspruch erworben; sie werden nicht wegen der Auflösung des Dienstverhältnisses gezahlt. In diesen Fällen wird ein vom Arbeitnehmer bereits erdienter Anspruch erfüllt, aber kein Ausgleich für den Verlust des Arbeitsplatzes gewährt (vgl. von Beckerath in Kirchhof/Söhn, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, § 3 Rdnr.B 9/20, B 9/25 und B 9/39).

Dieser Grundsatz ist auch zu beachten, wenn in Zusammenhang mit der Auflösung des Arbeitsverhältnisses Zahlungen zur Abgeltung einer betrieblichen Rentenanwartschaft geleistet werden. Dabei ist nicht ausschlaggebend, ob dem Arbeitnehmer bei Auflösung des Arbeitsverhältnisses ein Anspruch auf Auszahlung des Barwerts der Anwartschaft zustand (so aber Urteil des FG Baden- Württemberg vom 27.April 1978 III 282/76, EFG 1978, 420; v. Bornhaupt, BB, Beilage 7/1980, S.8; Heubeck/Höhne, Kommentar zum Betriebsrentengesetz, 2.Aufl., 1982, § 3 Rdnr.64). Vielmehr greift die Steuervergünstigung auch dann nicht ein, wenn der Arbeitnehmer zwar keinen Zahlungsanspruch, wohl aber eine unverfallbare Anwartschaft auf künftige Versorgungsleistungen erworben hatte. In diese gesicherte Rechtsposition kann der Arbeitgeber nicht eingreifen; die Auflösung des Arbeitsverhältnisses führt insoweit nicht zu Nachteilen des Arbeitnehmers. Dies ist anders, wenn die Rentenanwartschaft noch verfallbar war und infolge der Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht zur Unverfallbarkeit erstarken konnte; soll die Abfindung diesen Nachteil ausgleichen, fällt sie unter § 3 Nr.9 EStG.

2. Nicht gefolgt werden kann aber der Auffassung des FG, daß die Betriebsrentenanwartschaft im Streitfall unverfallbar gewesen sei; seine Feststellungen rechtfertigen diesen Schluß nicht.

Gemäß § 1 Abs.1 Satz 1 des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung vom 19.Dezember 1974 (BGBl I 1974, 3610, BStBl I 1975, 22) ―BetrAVG― behält ein Arbeitnehmer seine Anwartschaft auf betriebliche Altersversorgung, wenn sein Arbeitsverhältnis vor Eintritt des Versorgungsfalles endet, sofern in dem Zeitpunkt der Arbeitnehmer mindestens das 35.Lebensjahr vollendet hat und entweder die Versorgungszusage für ihn mindestens 10 Jahre bestanden hat oder der Beginn der Betriebszugehörigkeit mindestens 12 Jahre zurückliegt und die Versorgungszusage für ihn mindestens 3 Jahre bestanden hat. Nach Satz 2 dieser Vorschrift unterbricht eine Änderung der Versorgungszusage oder ihre Übernahme durch eine andere Person nicht den Ablauf der Frist von 10 Jahren des Satzes 1.

Da der Kläger dem Betrieb der GmbH nur 4 Jahre angehörte, kann die Voraussetzung eines 10jährigen Bestehens der Versorgungszusage nur erfüllt sein, sofern die Zeit des Bestehens der Versorgungszusage bei der H GmbH einzubeziehen ist.

Ob diese Voraussetzung vorliegt, kann der Senat auf der Grundlage der vom FG getroffenen Feststellungen nicht abschließend beurteilen. Der BFH darf die Würdigung eines Vertrages durch das FG daraufhin prüfen, ob das FG die gesetzlichen Auslegungsregeln (§§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuches ―BGB―) beachtet und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen hat (ständige Rechtsprechung; vgl. BFH-Urteile vom 1.Februar 1989 I R 215/84, BFH/NV 1989, 807, und vom 16.Mai 1990 I R 16/88, BFHE 161, 495, BStBl II 1990, 1049). Die Würdigung durch das FG entspricht nicht den Auslegungsregeln.

Die Einbeziehung der Vordienstzeiten stützt das FG auf die in Nr.7 Buchst.a des Dienstvertrages vom 27.Juli 1970 getroffene Regelung und auf Äußerungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung zur Besitzstandswahrung. Hieraus läßt sich die Einbeziehung der Vordienstzeiten aber nicht rechtfertigen. Die in Nr.7 Buchst.a des Dienstvertrages vorgenommene Bezugnahme auf die am 1.Juli 1970 geltende Ruhegeldzusage bei der H GmbH ist mehrdeutig. Diese Bezugnahme könnte auch bedeuten, daß diese Regelung als solche neu vereinbart werden sollte; in diesem Zusammenhang könnte von Belang sein, daß für die Invalidenrente die Anrechnung von 5 Jahren ausdrücklich vereinbart worden war.

Auch die Äußerungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung zur Besitzstandswahrung genügen nicht, um daraus die Anrechnung der Vordienstzeiten ableiten zu können, zumal der Kläger selbst auf Frage erklärt hatte, daß sich der Klammerzusatz "Für Sie werden fünf Jahre angerechnet" nur auf die Invalidenrente beziehe.

Die Frage nach der Anrechnung der Vordienstzeiten kann nur auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung aller Umstände beantwortet werden; neben dem Wortlaut der abgegebenen Erklärungen sind auch die Entstehungsgeschichte des Vertrages sowie der mit ihm verfolgte Zweck und die Interessenlage der Beteiligten zu würdigen. Dazu sind ggf. im Zusammenhang mit dem Abschluß des Vertrages vom 27.Juli 1970 stehende Korrespondenz sowie auch andere Beweismittel heranzuziehen. Die Feststellungen des FG sind demnach unvollständig. Sie müssen ergänzt werden, um dem Revisionsgericht die Überprüfung des Auslegungsergebnisses zu ermöglichen. Diese Aufgabe obliegt dem FG (ständige Rechtsprechung; vgl. BFH-Urteil vom 22.Januar 1985 VII R 112/81, BFHE 143, 203, BStBl II 1985, 562; vgl. ferner Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2.Aufl., 1987, § 115 Rz.27).

3. Bei seiner erneuten Entscheidung wird das FG ggf. zu berücksichtigen haben, daß der Kläger nach Ziffer 1 des Vergleichs vom 9.Dezember 1975 bereits eine Abfindung von 15 000 DM erhalten hat.

 

Fundstellen

Haufe-Index 63979

BFH/NV 1991, 50

BStBl II 1991, 723

BFHE 164, 279

BFHE 1992, 279

BB 1991, 1469

BB 1991, 1469-1470 (LT)

DB 1991, 1500 (LT)

DStR 1991, 903 (KT)

HFR 1991, 522 (LT)

StE 1991, 238 (K)

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