Leitsatz (amtlich)

Beruht der verspätete Zugang eines als Einschreibebrief aufgegebenen Schreibens darauf, daß das Finanzamt sein Postfach täglich nur einmal am frühen Morgen oder im Verlauf des Vormittags leert, kann sich das Finanzamt auf eine dadurch verursachte Überschreitung der Einspruchsfrist nicht berufen.

 

Normenkette

AO § 236 Abs. 1

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) hatte für das Streitjahr 1969 die Einkommensteuererklärung nicht abgegeben. Der Beklagte und Revisionskläger (FA) schätzte daraufhin die Besteuerungsgrundlagen und setzte die Einkommensteuer 1969 auf 35 254 DM fest. Der Steuerbescheid wurde dem Kläger durch einfachen Brief - zur Post gegeben am 1. März 1972 - bekanntgegeben. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Einspruch ein, der ausweislich des Eingangsstempels am 5. April 1972 beim FA einging. Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig, da er nicht innerhalb der am 4. April 1972 abgelaufenen Einspruchsfrist bei der Behörde eingegangen sei. In seiner Klage trug der Kläger vor, er habe am 1. April 1972 (Samstag vor Ostern) noch vor 12 Uhr mittags das Einspruchsschreiben als Einschreibebrief zur Post gegeben. Zugleich habe er einen weiteren Brief - ebenfalls als Einschreiben - an das Stadtsteueramt aufgegeben. Zum Nachweis legte er Fotokopien der Einlieferungsscheine vor. Während das an das Stadtsteueramt gerichtete Schreiben den Empfänger am 4. April 1972 (Osterdienstag) erreicht habe, sei das an das FA gerichtete Einspruchsschreiben erst einen Tag später - am Mittwoch nach Ostern (5. April 1972) - bei der Behörde eingegangen. Diese postalische Verzögerung habe er nicht zu vertreten. Während des finanzgerichtlichen Verfahrens reichte der Kläger auch seine Einkommensteuererklärung ein.

Das FG setzte durch Urteil die Steuer auf 9 185 DM herab.

Das FG führte zur Begründung seiner Entscheidung aus, es könne dahingestellt bleiben, ob sich der Beginn der Einspruchsfrist bei einer Zustellung mit einfachem Brief deshalb hinausschiebe, weil der dritte Tag nach Aufgabe zur Post auf einen Samstag falle (§ 17 Abs. 2 VwZG i. V. m. § 193 BGB); in diesem Falle wäre die Einspruchsfrist gewahrt. Auf jeden Fall sei aber wegen einer möglichen Fristversäumnis Nachsicht zu gewähren.

In seiner Revision rügt das FA, das FG habe dem Kläger zu Unrecht Nachsicht wegen Versäumung der Einspruchsfrist gewährt.

Der Kläger ist der Auffassung, er habe die Einspruchsfrist nicht versäumt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.

Die Rüge des FA, das FG habe für den Fall einer möglichen Versäumung der Einspruchsfrist zu Unrecht Nachsicht gewährt, ist begründet (wird näher ausgeführt).

Der erkennende Senat kann im vorliegenden Fall nicht durcherkennen, weil noch nicht feststeht, ob der Kläger die Einspruchsfrist versäumt hat.

Das FG hat nicht dazu Stellung genommen, an welchem Tage im vorliegenden Fall die Einspruchsfrist zu laufen begonnen hat und auf welchen Tag das Ende dieser Frist fällt. Es hat es dahingestellt sein lassen, ob sich der Beginn der Einspruchsfrist bei einer Zustellung des Steuerbescheids mit einfachem Brief (§ 17 VwZG) deshalb hinausschiebt, weil der dritte Tag nach Aufgabe zur Post auf einen Samstag - hier auf Samstag, den 4. März 1972 - fällt. Diese Frage hat der BFH in dem Urteil vom 18. Januar 1974 VI R 252/70 (BFHE 111, 230, BStBl II 1974, 226) inzwischen dahin entschieden, daß § 193 BGB in der Fassung des Gesetzes über den Fristablauf am Sonnabend vom 10. August 1965 (BGBl I 1965 S. 753) nicht für die uneigentliche Frist des § 17 Abs. 2 VwZG gilt. Das hat zur Folge, daß sich dieser Dreitageszeitraum dann nicht etwa bis zum Ablauf des nächsten Werktags verlängert, wenn der letzte Tag dieses Zeitraums auf einen Samstag fällt. Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an. Fällt somit die Bekanntgabe des Steuerbescheids auf Samstag, den 4. März 1972, endete die Einspruchsfrist, die einen Monat beträgt, am 4. April 1972, der in diesem Jahr der Dienstag nach den Osterfeiertagen war.

Der Kläger hat in der Revisionsinstanz ein Schreiben des für das FA zuständigen Postamts vorgelegt, dessen Abs. 1 lautet:

"Der am 1. April 1972 12 Uhr eingelieferte Ebf an das Finanzamt ... ist am 4. April 1972 um 12 Uhr beim Postamt eingegangen und hat somit die Zustellung am 4. April nicht mehr erreicht. Der Ebf. wurde am folgenden Tage, also am 5. April 1972, durch einen Sonderzusteller ausgehändigt."

Der Kläger hat ferner vorgetragen, nach seinen Nachforschungen sei der das Einspruchsschreiben enthaltende Einschreibebrief am 4. April 1972 bis 12 Uhr mittags beim Postamt eingetroffen und der rote Zettel (Benachrichtigungszettel) in das dortige Postfach des FA gelegt worden. Das FA habe aber am 4. April 1972 die Sendung nicht mehr abgeholt.

Aus den vom Kläger vorgetragenen Umständen, die nachzuprüfen der BFH als Revisionsgericht nicht in der Lage ist, kann sich ergeben, daß die Einspruchsfrist nicht versäumt ist. Die Rechtzeitigkeit und damit die Zulässigkeit des Einspruchs ist Voraussetzung dafür, daß der Steuerbescheid durch die Verwaltungsbehörde oder später durch das FG noch nachgeprüft werden kann. Die Zulässigkeit des Einspruchs gehört deshalb zu den Sachurteilsvoraussetzungen (BFH-Urteil vom 14. April 1970 VII R 69/68, BFHE 99, 100, BStBl II 1970, 548). Das Vorliegen von Sachurteilsvoraussetzungen ist von Amts wegen in jeder Verfahrenslage - auch unter Berücksichtigung neuen tatsächlichen Vorbringens - zu überprüfen (BFH-Urteil vom 9. September 1970 I R 113/69, BFHE 100, 179, BStBl II 1971, 9). Die Sache ist daher an das FG zurückzuverweisen.

Das FG wird bei seiner Entscheidung berücksichtigen, daß der Zugang einer Einschreibsendung nicht schon mit der Hinterlegung eines Benachrichtigungszettels im Postfach des Empfängers bewirkt ist, sondern erst mit der Übergabe des Briefes an den Adressaten oder eine zur Annahme berechtigte Person (Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 16. November 1973 Vf 2-VI-73, VerfGHE 26, 127 [136]). Ist der verspätete Zugang eines Einschreibens aber darauf zurückzuführen, daß der Empfänger sein Postfach täglich nur einmal am frühen Morgen oder im Verlauf des Vormittags leert, so kann sich der Empfänger auf den verspäteten Zugang nicht berufen (Urteil des Oberlandesgerichts Celle vom 9. April 1974 11 U 156/73, Neue Juristische Wochenschrift 1974 S. 1386). Sollte im vorliegenden Fall das FA sein Postfach am 4. April 1972 nur einmal, und zwar im Laufe des Vormittags, geleert haben oder sollte es den im Postfach schon liegenden Benachrichtigungszettel nicht beachtet oder den Zettel zwar entnommen, aber den Einschreibebrief nicht am selben Tage abgeholt haben, kann es sich nicht darauf berufen, daß ihm das Einschreiben erst am 5. April 1972 und damit verspätet zugegangen sei. Es muß sich dann so behandeln lassen, als sei der Einspruch rechtzeitig am 4. April 1972 bei ihm eingegangen. Es kommt letztlich darauf an, ob das Einschreiben des Klägers beim Empfängerpostamt so rechtzeitig eingegangen ist, daß es dem FA bei ordnungsmäßigem Verhalten noch am 4. April 1972 zugegangen wäre. Das FG wird daher Feststellungen in der Hinsicht treffen, ob der Einschreibebrief des Klägers schon am 4. April 1972 - gegebenenfalls zu welcher Uhrzeit - beim Empfängerpostamt eingetroffen ist, ob und gegebenenfalls zu welcher Uhrzeit ein Benachrichtigungszettel über den angelangten Einschreibebrief in das Postfach des FA gelegt worden ist, wann das FA den Benachrichtigungszettel aus seinem Postfach entnommen und zu welchen Uhrzeiten es am 4. April 1972 sein Postfach geleert hat.

 

Fundstellen

Haufe-Index 71691

BStBl II 1976, 76

BFHE 1976, 139

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