Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung Handelsrecht Gesellschaftsrecht

 

Leitsatz (amtlich)

Bei der Zustellung eines Steuerbescheids an eine in Liquidation befindliche GmbH gemäß § 17 Abs. 1 VwZG muß der dem Empfänger verschlossen zugesandte einfache Brief außer der Anschrift der GmbH den Zusatz "zu Händen des/der ....." (Namen des Liquidators oder der Liquidatoren) enthalten.

Der V. Senat schließt sich der Rechtsprechung des II. Senats des Bundesfinanzhofs an, nach der die Vorschrift des § 9 Abs. 1 VwZG über die Heilung von Zustellungsmängeln nach § 9 Abs. 2 VwZG allgemein dann nicht anwendbar ist, wenn mit der Zustellung eine Rechtsmittelfrist beginnt.

AO §§ 91 Abs. 1 Satz 3, 211 Abs. 3, 333 Abs. 1 Ziff. 1, 245, 246 Abs. 1; VwZG §§ 3 Abs. 1 Satz 2, 7

 

Normenkette

AO § 91 Abs. 1, § 211 Abs. 3, § 222/1/1, §§ 245, 237 a. F, § 246 Abs. 1; VwZG § 3 Abs. 1, § 7 Abs. 2, §§ 9, 17 Abs. 1; GmbHG § 35 Abs. 1, § 68 Abs. 3, § 70

 

Tatbestand

Die Steuerpflichtige war am 26. März 1958 gegründet worden. Am 30. Mai 1960 ist ihre Liquidation zur Eintragung in das Handelsregister eingetragen worden. ...

Für den Veranlagungszeitraum 1958 setzte das Finanzamt die Umsatzsteuer am 16. November 1959 zunächst entsprechend der Berechnung in der Umsatzsteuererklärung fest. Am 2. August 1960 erließ das Finanzamt einen Umsatzsteuerbescheid unter der Anschrift "AGes.mbH. X, ...straße 1", in dem die Umsatzsteuer für 1958 mit 4 v. H. der Umsätze berechnet war. Der bei den Akten befindliche Berechnungsbogen enthält die Vermerke: "Berichtigung gemäß § 222 AO" und "Feststellungen auf Grund der Kleinstbetriebsprüfung". Für den Veranlagungszeitraum 1959 erging ebenfalls am 2. August 1960 unter derselben Anschrift ein Umsatzsteuerbescheid in dem von vornherein die Umsatzsteuer - abweichend von der Umsatzsteuererklärung - mit 4 v. H. der Umsätze berechnet war. Beide Bescheide wurden gemäß § 17 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) vom 3. Juli 1952 (BGBl I S. 379, BStBl 1952 I S. 615) am 2. August 1960 durch einfachen Brief zur Post aufgegeben.

Nach Einleitung von Vollstreckungsmaßnahmen durch das Finanzamt beantragte die Steuerpflichtige am 24. Januar 1961 Stundung der Umsatzsteuer für 1958 und 1959 und kündigte einen Antrag auf Teilerlaß an. Erstmalig mit Schreiben vom 10. Juni 1961 behauptete sie, sie habe die Umsatzsteuerbescheide vom 2. August 1960 nicht erhalten. Nachdem ihr auf ihre Bitte vom Finanzamt Abschriften dieser Bescheide zugesandt worden waren, legte sie am 31. Juli 1961 Einsprüche ein. Eine Begründung der Einsprüche ging beim Finanzamt trotz wiederholter Erinnerung nicht ein.

Die Einsprüche wurden vom Finanzamt als unzulässig verworfen. Aus den Umständen des Falles sei - so wird in der Einspruchsentscheidung ausgeführt - zu schließen, daß die Umsatzsteuerbescheide 1958 und 1959 in den Verfügungsbereich der Steuerpflichtigen gelangt seien. Die Einsprüche seien aber erst viele Monate nach Ablauf der Einspruchsfrist beim Finanzamt eingegangen.

Demgegenüber vertrat das Finanzgericht den Standpunkt, daß die Umsatzsteuerbescheide vom 2. August 1960 der Steuerpflichtigen nicht rechtswirksam zugestellt worden seien. Das Finanzamt habe damals gewußt, daß sich die Steuerpflichtige in der Auflösung befand. Die Bescheide hätten daher den Abwicklern (Liquidatoren) der Steuerpflichtigen zugestellt werden müssen. Mangels wirksamer Zustellung der Bescheide sei die Rechtsmittelfrist nicht in Lauf gesetzt worden. Die Einsprüche seien daher zulässig. ...

Die Rb. des Vorstehers des Finanzamts wird auf unrichtige Anwendung des geltenden Rechts gestützt: Bei Kapitalgesellschaften liege eine wirksame Bekanntgabe in aller Regel dann vor, wenn der Steuerbescheid in den Verfügungsbereich des gesetzlichen Vertreters (Vorstand, Geschäftsführer) gelangt sei. Der an eine aufgelöste Kapitalgesellschaft gerichtete Steuerbescheid sei wirksam bekanntgegeben, wenn er in den Verfügungsbereich des Liquidators gelangt sei. Das Finanzgericht hätte daher das Vorbringen des Finanzamts, wonach alles darauf hindeute, daß die Umsatzsteuerbescheide 1958 und 1959 der Liquidatorin zugegangen sind, würdigen müssen. ...

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. hat keinen Erfolg.

Nach § 246 Abs. 1 AO beginnt die Frist zur Einlegung eines Rechtsmittels mit Ablauf des Tages, an dem der Bescheid dem Berechtigten zugestellt oder, wenn keine Zustellung erfolgt, bekanntgeworden ist oder als bekannt gemacht gilt. Mit dem Ausdruck "bekanntgeworden ist" ist nicht jedes, sondern nur das den Bekanntgabevorschriften entsprechende ordnungsgemäße Bekanntwerden gemeint (vgl. Riewald, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, § 246 Anm. 1; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung, § 246 Anm. 2). Die Bekanntgabe muß in der Form der Zustellung geschehen, wenn das Gesetz es ausdrücklich vorsieht (§ 91 Abs. 1 Satz 3 AO). Für Steuerbescheide bestimmt die AO die Bekanntgabe in der Form der Zustellung (§ 211 Abs. 3 AO). Allerdings kann die Zustellung von schriftlichen Bescheiden im Besteuerungsverfahren dadurch ersetzt werden, daß der Bescheid dem Empfänger durch einfachen Brief verschlossen zugesandt wird (§ 17 Abs. 1 VwZG).

An wen zuzustellen ist, bestimmt das VwZG. Bei Behörden, juristischen Personen, nicht rechtsfähigen Personenvereinigungen und Zweckvermögen wird an ihre Vorsteher zugestellt (§ 7 Abs. 2 VwZG). Das gilt, da § 7 VwZG im Abschnitt II "Gemeinsame Vorschriften für alle Zustellungsarten" steht, auch für die in Abschnitt V "Sonderarten der Zustellung" geregelte "Zustellung im Besteuerungsverfahren" nach § 17 VwZG. Bei der Zustellung durch die Post ist die Sendung mit der Anschrift des Empfängers zu versehen (§ 3 Abs. 1 Satz 2 VwZG). Wie bei juristischen Personen die Anschrift zu lauten hat, ergibt sich aus Abschnitt 9 Abs. 3 der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Verwaltungszustellungsgesetz vom 3. Oktober 1952 (Ministerialblatt des Bundesministers der Finanzen 1952 S. 574); danach ist bei Behörden, juristischen Personen usw. die Zustellung an diese zu richten mit dem Satz "zu Händen des Vorstehers" (vgl. auch v. Rosen - v. Hoewel, Verwaltungsvollstreckungsgesetz und Verwaltungszustellungsgesetz, § 7 VwZG, Erläuterungen B II 2). Ist der Name des Vorstehers bekannt, so ist auch dieser hinzuzufügen. "Vorsteher" im Sinne des § 7 Abs. 2 VwZG sind bei einer Kapitalgesellschaft deren gesetzliche Vertreter, bei einer GmbH deren Geschäftsführer (§ 35 Abs. 1 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung - GmbHG -). Gesetzliche Vertreter einer in Liquidation befindlichen GmbH sind die Liquidatoren (§§ 68 Abs. 1, 70 GmbHG; vgl. auch Scholz, Kommentar zum GmbH-Gesetz, 4. Auflage, § 68 Anm. 1).

Hieraus folgt, daß im Streitfalle die Aufschrift auf dem "einfachen Brief" mit den Steuerbescheiden für 1958 und 1959 außer der Anschrift der Steuerpflichtigen den Zusatz "zu Händen des/der ....." (Namen des Liquidators oder der Liquidatoren) hätte enthalten müssen. Mindestens wäre der Zusatz "zu Händen des Geschäftsführers" oder "zu Händen des Liquidators" oder "zu Händen des Vorstehers" erforderlich gewesen. Die Zustellung an einen falschen Zustellungsadressaten verstößt gegen zwingende Zustellungsvorschriften (vgl. Stein-Jonas-Schönke-Pohle, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 18. Auflage, § 187 Bem. II 3 d). Dagegen ist ohne nachteilige Wirkungen, daß das Finanzamt die Steuerpflichtige nicht als Liquidationsfirma bezeichnet hat. Bei § 68 Abs. 3 GmbHG handelt es sich insoweit nur um eine Ordnungsvorschrift (vgl. Scholz, a. a. O., § 68 Anm. 10).

Da der Brief mit den Steuerbescheiden im Streitfalle nicht die richtige Aufschrift trug, die Steuerbescheide mithin nicht dem in § 7 Abs. 2 VwZG bezeichneten Zustellungsempfänger (Vorsteher) zugestellt worden sind, ist die Zustellung mangelhaft erfolgt. Zustellungsmängel können zwar grundsätzlich durch den Nachweis des Eingangs des Schriftstücks beim Empfangsberechtigten (hier Liquidator) geheilt werden (§ 9 Abs. 1 VwZG). Das gilt aber u. a. dann nicht, wenn mit der Zustellung eine Frist für die Erhebung der Klage beginnt (§ 9 Abs. 2 VwZG). Nach der ständigen Rechtsprechung des II. Senats des Bundesfinanzhofs (vgl. Urteil II 239/53 U vom 11. August 1954, BStBl 1954 III S. 327, Slg. Bd. 59 S. 305; Beschluß II 15/58 U vom 11. Februar 1959, BStBl 1959 III S. 181, Slg. Bd. 68 S. 476; Urteil II 127/60 vom 11. Juli 1962, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1962 S. 351), der sich der erkennende Senat anschließt, ist die Vorschrift des § 9 Abs. 1 VwZG über die Heilung von Zustellungsmängeln nach § 9 Abs. 2 VwZG allgemein dann nicht anwendbar, wenn mit der Zustellung eine Rechtsmittelfrist beginnt. Da die Einspruchsfrist der §§ 245, 246 AO im Streitfalle nicht zu laufen begann (vgl. Abschnitt 11 Abs. 2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Verwaltungszustellungsgesetz, a. a. O.), sind die Einsprüche vom 31. Juli 1961 nicht verspätet eingelegt worden und somit zulässig, ohne daß es eines Eingehens auf die Fragen bedarf, ob die Liquidatoren die Steuerbescheide erhalten haben und ob - was die Steuerpflichtige bezweifelt - die Rechtsmittelbelehrung in den Steuerbescheiden vollständig war. Unterstellt man, daß die Liquidatoren die Umsatzsteuerbescheide vom 2. August 1960 erhalten haben, so wäre eine Verwirkung des Rechts der Steuerpflichtigen, Einspruch einzulegen, nicht anzunehmen, weil die Einsprüche innerhalb eines Jahres nach dem Ergehen der angefochtenen Veranlagungen eingelegt worden sind und nicht ganz ausgeschlossen ist, daß die Liquidatoren geglaubt haben, die angeforderten Umsatzsteuerbeträge auf alle Fälle zahlen zu müssen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs VI 94/62 S vom 22. Januar 1964, BStBl 1964 III S. 201, Slg. Bd. 78 S. 528)....

 

Fundstellen

Haufe-Index 411616

BStBl III 1965, 468

BFHE 1965, 615

BFHE 82, 615

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