Entscheidungsstichwort (Thema)

Rücktrittsvereinbarung nach Veräußerung einer wesentlichen Beteiligung als rückwirkendes Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 - Begriff des rückwirkenden Ereignisses - Anwendung der Rechtsprechung zur Änderung des Veräußerungspreises i.S. des § 16 Abs. 2 EStG auf § 17 Abs. 2 EStG

 

Leitsatz (amtlich)

Wird der gestundete Kaufpreis für die Veräußerung einer wesentlichen Beteiligung wegen einer in einem späteren Veranlagungszeitraum geschlossenen Rücktrittsvereinbarung nicht mehr entrichtet, so ist dies ein Ereignis mit steuerlicher Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Veräußerung.

 

Orientierungssatz

1. Zur Annahme eines rückwirkenden Ereignisses i.S. des § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 genügt es nicht, daß ein späteres Ereignis den für die Besteuerung maßgebenden Sachverhalt anders gestaltet. Die Änderung muß sich auch steuerrechtlich in der Weise auswirken, daß nunmehr der veränderte anstelle des zuvor verwirkten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist. Ob diese Voraussetzung vorliegt, entscheidet sich nach dem im Einzelfall anzuwendenden materiellen Steuergesetz.

2. Die Rechtsprechung zu § 16 Abs.2 EStG, wonach nachträgliche Änderungen des Veräußerungspreises steuerrechtlich auf den Zeitpunkt der Veräußerung zurückwirken, gilt entsprechend für § 17 Abs.2 EStG, unabhängig davon, ob das Ereignis, das für die Änderung ursächlich war, erst nach dem Zeitpunkt der Veräußerung eingetreten ist. Dabei kommt es nicht darauf an, welche Gründe rechtlicher oder tatsächlicher Art zu der rückwirkenden Sachverhaltsänderung geführt haben, ob diese Gründe "im Kern" bereits im ursprünglichen Rechtsgeschäft angelegt waren und ob es sich hierbei um private Motive handelt (vgl. BFH-Rechtsprechung; Ausführungen zu Vergleichbarkeit und Systematik der §§ 16, 17 EStG).

 

Normenkette

EStG § 17 Abs. 1-2; AO 1977 § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; EStG § 16 Abs. 1-2

 

Verfahrensgang

FG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 10.09.1993; Aktenzeichen 3 K 2192/91)

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) war Eigentümerin einer zu ihrem Privatvermögen gehörenden wesentlichen Beteiligung an einer GmbH. Sie übertrug diese Beteiligung 1972 auf ihre Kinder. Den Kaufpreis stundete sie den Käufern für die Dauer von zehn Jahren. Als Gegenleistung hierfür verblieben ihr die ausgeschütteten Gewinne und die Möglichkeit zur Ausübung der Gesellschafterrechte.

Darüber hinaus boten die Käufer der Klägerin unwiderruflich an, die Kaufverträge gegen Stornierung des Kaufpreises rückgängig zu machen. Die Klägerin konnte dieses Angebot jederzeit annehmen.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) berücksichtigte im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung 1972 u.a. auch einen Gewinn aus der Veräußerung der Beteiligung in Höhe von 900 000 DM. Der Einkommensteuerbescheid wurde bestandskräftig.

Mit notariellem Vertrag vom 23.Dezember 1980 trat die Klägerin von den Kaufverträgen zurück. Die Käufer übertrugen die Gesellschaftsanteile wieder an sie zurück. Nach § 1 und § 3 des Vertrages sollten damit die Rechtsgrundlage für den geschuldeten Kaufpreis sowie alle etwaigen Nebenansprüche rückwirkend entfallen.

Am 22.Januar 1982 beantragte die Klägerin die Änderung des Einkommensteuerbescheides 1972 gemäß § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 der Abgabenordnung (AO 1977). Durch den Rücktritt vom Vertrag sei ein Ereignis mit steuerrechtlicher Wirkung für die Vergangenheit eingetreten.

Das FA lehnte den Antrag mit dem Hinweis ab, daß die AO 1977 eine Änderung bestandskräftiger Bescheide wegen der Folgen eines vereinbarten Rücktritts nicht ermögliche. Einspruch und Klage blieben erfolglos.

Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung materiellen Rechts (§ 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 i.V.m. § 17 des Einkommensteuergesetzes --EStG--).

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Finanzgerichts (FG) aufzuheben und das FA zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid 1972 vom 8.Mai 1979 in der Weise zu ändern, daß der Veräußerungsgewinn in Höhe von 900 000 DM bei der Festsetzung der Einkommensteuer unberücksichtigt bleibt.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Stattgabe der Klage (§ 126 Abs.3 Nr.1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

Der Einkommensteuerbescheid 1972 ist mit der Maßgabe zu ändern, daß ein Gewinn aus der Veräußerung der Beteiligung an der GmbH nicht zu berücksichtigen ist.

1. Nach § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977, § 9 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis). Ein solches Ereignis liegt im Streitfall vor.

Was unter einem rückwirkenden Ereignis zu verstehen ist, wird im Gesetz nicht näher bestimmt. Es genügt aber nicht, daß das spätere Ereignis den für die Besteuerung maßgeblichen Sachverhalt anders gestaltet. Die Änderung muß sich auch steuerrechtlich in der Weise auswirken, daß nunmehr der veränderte anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist. Ob diese Voraussetzung vorliegt, entscheidet sich nach dem im Einzelfall anzuwendenden materiellen Steuergesetz. Hinsichtlich der Begründung verweist der Senat auf den Beschluß des Großen Senats vom 19.Juli 1993 GrS 2/92 (BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897, unter C II. 1. der Gründe).

2. Die für die Besteuerung des Veräußerungsgewinns maßgebende materiell-rechtliche Vorschrift ist im Streitfall § 17 Abs.1, 2 EStG. Nach dessen Abs.1 Satz 1 gehören zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb auch Gewinne, die bei der Veräußerung von wesentlichen Beteiligungen an einer Kapitalgesellschaft erzielt werden. Nach Abs.2 Satz 1 ist Veräußerungsgewinn der Betrag, um den der Veräußerungspreis nach Abzug der Veräußerungskosten die Anschaffungskosten der Beteiligung übersteigt.

Der Große Senat hat die vergleichbare Regelung des § 16 Abs.2 EStG für den Fall des teilweisen Ausfalles einer Kaufpreisforderung dahin ausgelegt, daß nachträgliche Änderungen des Veräußerungspreises steuerrechtlich auf den Zeitpunkt der Veräußerung zurückwirken (Abschn.C II. des Beschlusses GrS 2/92). Entsprechendes gilt für § 17 Abs.2 EStG und für den hier vorliegenden Fall, daß der Kaufpreis in vollem Umfang nicht entrichtet wird, weil das Veräußerungsgeschäft selbst rückgängig gemacht wurde.

a) Der Regelung des § 16 Abs.1, 2 EStG liegt die Annahme zugrunde, daß das Veräußerungsgeschäft ohne Störungen so abgewickelt wird, wie es vertraglich vereinbart ist (Abschn.C II. 2. b des Beschlusses GrS 2/92). Das gilt auch für die Besteuerung des Veräußerungsgewinns nach § 17 Abs.1, 2 EStG. Der Tatbestand des § 17 EStG entspricht in seinem Aufbau und seiner systematischen Stellung innerhalb der Besteuerungstatbestände des EStG demjenigen des § 16 EStG. Die Vorschrift ist zusammen mit § 16 EStG in das EStG 1925 eingeführt worden und beruht auf der Vorstellung, daß das Halten und die Veräußerung einer wesentlichen Beteiligung wirtschaftlich dem Einzelunternehmen und der Beteiligung an einer OHG "sehr nahesteht" (Amtliche Begründung zum EStG 1925, RTDrucks III. Wahlperiode 1924/25, Drucks Nr.795, S.55, 56, und zur Gesetzesbegründung, Strutz, Kommentar zum Einkommensteuergesetz 1925, Band II, § 30 Anm.2, 29; vgl. ferner Begründung zum Steueränderungsgesetz --StÄndG-- 1965 vom 14.Mai 1965, BGBl I 1965, 377, BTDrucks IV/2400, 69). Der wesentlich Beteiligte soll einem Mitunternehmer gleichgestellt werden (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 7.Oktober 1969 2 BvL 3/66, 2 BvR 701/64, BVerfGE 27, 111, 128 f., BStBl II 1970, 160; Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 19.Mai 1992 VIII R 16/88, BFHE 168, 170, BStBl II 1992, 902; vom 4.November 1992 X R 33/90, BFHE 169, 357, BStBl II 1993, 292 unter 5.d der Gründe m.w.N.). Dementsprechend sollten auch die Gewinne aus der Veräußerung wesentlicher Beteiligungen an Kapitalgesellschaften in gleicher Weise versteuert werden, wie die Gewinne aus der Veräußerung von Mitunternehmer-Anteilen.

Die Rechtsprechung hat unter Berücksichtigung dieses gemeinsamen Zwecks der §§ 16, 17 EStG auch den Begriff der Veräußerung und daraus folgend den Zeitpunkt der Gewinnrealisierung (vgl. z.B. --für § 16 EStG-- BFH-Urteil vom 3.Oktober 1984 I R 119/81, BFHE 142, 433, BStBl II 1985, 245, und Beschluß in BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897 unter C II. 2. b der Gründe sowie --für § 17 EStG-- BFH-Urteile vom 27.Juli 1988 I R 147/83, BFHE 155, 52, BStBl II 1989, 271 m.w.N.; vom 3. Juni 1993 VIII R 81/91, BFHE 172, 407, BStBl II 1994, 162; vgl. auch Schmidt, Einkommensteuergesetz, 12.Aufl., § 16 Anm.4 und § 17 Anm.19 a: jeweils zweigliedriger Tatbestand) sowie den Begriff des Veräußerungsgewinns und daraus folgend die Art der Gewinnermittlung (vgl. z.B. --für § 16 EStG-- den Beschluß in BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897 unter C II. 2. c und d der Gründe m.w.N. und --für § 17 EStG-- BFH-Urteile vom 7.März 1974 VIII R 118/73, BFHE 112, 459, BStBl II 1974, 567; vom 30.Juni 1983 IV R 113/81, BFHE 138, 569, BStBl II 1983, 640; vom 27. Oktober 1992 VIII R 87/89, BFHE 170, 53, BStBl II 1993, 340; Schmidt, a.a.O., § 17 Anm.21 a, m.w.N.) inhaltlich gleichlautend ausgelegt.

Diese Auslegung ist wesentlich davon bestimmt, daß es sich um Steuertatbestände handelt, die an einen einmaligen Vorgang anknüpfen, und bei denen nachträgliche Änderungen nicht in einer Folgebilanz oder nach den Grundsätzen des Zuflußprinzips in einem späteren Veranlagungszeitraum berücksichtigt werden können (zur Behandlung auch des § 16 EStG als sog. "Einmaltatbestand" vgl. Beschluß in BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897 unter Abschn.C II. 1. d der Gründe). Beide Vorschriften müssen deshalb auch hinsichtlich solcher Änderungen gleichbehandelt werden (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 2.Oktober 1984 VIII R 20/84, BFHE 143, 304, BStBl II 1985, 428, und Beschluß vom 26.März 1991 VIII R 55/86, BFHE 166, 21, BStBl II 1992, 479 unter B III. 4. b dd).

b) Wie im Falle des § 16 Abs.1, 2 EStG ist deshalb auch bei § 17 Abs.1, 2 EStG eine rückwirkende Korrektur des Sachverhalts unabhängig davon geboten, ob das Ereignis, das für eine Änderung des Veräußerungsgewinns ursächlich war, erst nach dem Zeitpunkt der Veräußerung (der Gewinnrealisierung) eingetreten ist. Dabei kommt es nicht darauf an, welche Gründe rechtlicher oder tatsächlicher Art zu der rückwirkenden Sachverhaltsänderung geführt haben; insbesondere ist es unerheblich, ob diese "im Kern" bereits im ursprünglichen Rechtsgeschäft angelegt waren (Beschluß in BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897 unter Abschn.C II. 1. b und zur abweichenden bisherigen Rechtsprechung unter Abschn.C I. 1. b der Gründe).

Es braucht deshalb auch im Streitfall nicht mehr näher geprüft zu werden, ob eine Rücktrittsvereinbarung, die zwar rechtlich auf dem im Veräußerungsvertrag vereinbarten Optionsrecht, tatsächlich aber auf dem --später gebildeten-- freien Willen des Veräußerers beruht, ihren Grund noch in diesem Vertrag hat.

c) Eine rückwirkende Korrektur der Besteuerungsfolge des § 17 EStG ist auch geboten, wenn die Klägerin ihr Optionsrecht aus einem außerhalb des Vertragsverhältnisses liegenden, privaten Grund ausgeübt haben sollte.

Der Große Senat hat in seinem o.a. Beschluß ausgeführt, daß nach den Vorstellungen des Gesetzgebers nur der tatsächlich erzielte Veräußerungsgewinn nach Maßgabe des § 16 Abs.2 EStG besteuert werden soll (Abschn.C II. 2. b der Gründe). Wird ein solcher Gewinn nicht erzielt, fehlt ein Merkmal des Tatbestands, an den das Gesetz die Besteuerung knüpft. Nur diese Auslegung trägt der auch bei Veräußerungsgewinnen maßgeblichen Besteuerung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip Rechnung (so auch Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9.Aufl., § 41 AO 1977 Rz.106; Reiß in Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz, § 16 Rdnr.E 90, 91). Dementsprechend fordert § 17 Abs.2 EStG, daß jede nach der Veräußerung eintretende Veränderung beim ursprünglich vereinbarten Veräußerungspreis oder beim Veräußerungstatbestand solange und soweit auf den Zeitpunkt der Veräußerung zurückzubeziehen ist, als der Erwerber seine Verpflichtung zur Zahlung des Kaufpreises nicht erfüllt. Es ist ohne Bedeutung, ob er seine Leistung aus tatsächlichen Gründen nicht erbringen kann oder sie aus rechtlichen Gründen nicht (mehr) zu erbringen braucht.

 

Fundstellen

Haufe-Index 64514

BStBl II 1994, 648

BFHE 174, 324

BFHE 1995, 324

BB 1994, 1485

BB 1994, 1485-1486 (LT)

DB 1994, 1701-1703 (LT)

DStR 1994, 1229-1231 (KT)

HFR 1994, 601-602 (KT)

StE 1994, 426-427 (K)

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