Leitsatz (amtlich)

Der Erlaß eines vorläufigen Steuerbescheids nach § 100 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 AO gegen einen der Betriebsprüfung unterliegenden Steuerpflichtigen setzt eine Ermessensentscheidung des Finanzamts voraus, die das berechtigte Interesse des Steuerpflichtigen an einer alsbaldigen endgültigen Veranlagung und das berechtigte Interesse des Finanzamts an der Möglichkeit einer erleichterten Berichtigung gegeneinander abzuwägen hat.

 

Normenkette

AO § 100 Abs. 2

 

Tatbestand

Streitig ist das Recht des Revisionsbeklagten (FA), im vorliegenden Streitfall die Revisionskläger, den am 16. Juni 1968 verstorbenen Steuerpflichtigen und seine Ehefrau, nunmehr alleinige Erbin des Steuerpflichtigen, für den Veranlagungszeitraum 1964 gemäß § 100 Abs. 2 AO vorläufig zur Einkommensteuer zu veranlagen.

Die Steuerpflichtigen, die für den streitigen Veranlagungszeitraum Einkünfte aus Gewerbebetrieb, Kapitalvermögen und Vermietung und Verpachtung erklärt hatten, wurden vom FA mit Bescheid vom 9. März 1966 gemäß § 100 Abs. 2 AO nach Erklärung vorläufig zur Einkommensteuer veranlagt.

Mit ihren Rechtsbehelfen gegen den Bescheid vom 9. März 1966 wandten sich die Steuerpflichtigen gegen die Vorläufigkeit des Bescheides und beantragten ihre endgültige Veranlagung. Einspruch und Berufung blieben jedoch ohne Erfolg.

Gegen die Entscheidung des FG wenden sich die Steuerpflichtigen mit der Revision, zu deren Begründung sie vortragen lassen:

Das FG habe die Vorschrift des § 2 StAnpG verletzt. Die Durchführung einer vorläufigen Veranlagung sei angesichts der Vorschriften der §§ 204 ff. AO die Ausnahme und als solche besonders zu begründen. Eine solche Begründung liege in der alsbald zu erwartenden Durchführung einer Betriebsprüfung (Urteile des BFH V 121/62 U vom 15. Oktober 1964, BFH 80, 511, BStBl III 1964, 658, und VI 129/63 U vom 13. November 1964, BFH 81, 563, BStBl III 1965, 203). Dagegen könne den Steuerpflichtigen nicht zugemutet werden, über die Höhe der für das Kalenderjahr 1964 zu zahlenden Steuer erst nach etwa sieben Jahren in Kenntnis gesetzt zu werden. Soweit das FG die Frage der vorläufigen Veranlagung mit dem Zeitablauf verbinde, bestehe in der Finanzverwaltung keine einheitliche Auffassung; denn nach einer Verfügung der OFD Hannover vom 14. November 1960 (Finanz-Rundschau 1961 S. 186) sei eine vorläufige Veranlagung nach § 100 Abs. 2 AO innerhalb eines Jahres in eine endgültige Veranlagung umzuwandeln. Weder der Umfang der für die abschließende Veranlagung erforderlichen Prüfungsarbeit (§ 60 Abs. 4 EStDV sehe die Vorlage der Wirtschaftsprüfungsberichte vor) noch das Bestreben, die Veranlagung eines Jahres im Interesse der Statistik schnell voranzutreiben, rechtfertige es, das Interesse der Steuerpflichtigen an einer endgültigen Steuerfestsetzung außer Betracht zu lassen.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision ist nicht begründet.

1. Wie der BFH in den von den Steuerpflichtigen angeführten Entscheidungen dargelegt hat, bedeutet die Vorschrift des § 100 Abs. 2 AO eine Erweiterung der Möglichkeit des § 100 Abs. 1 AO, vorläufig zu veranlagen. Danach ist eine vorläufige Veranlagung nach ausdrücklicher Vorschrift des Gesetzes - soweit diese Vorschrift hier Platz greift - ohne weitere Begründung statthaft, wenn der Steuerpflichtige der Betriebsprüfung unterliegt. Auf diese Weise soll eine sachlich richtige endgültige Veranlagung unabhängig von den Schranken der §§ 94 und 222 Abs. 1 AO sichergestellt werden. Die zu § 82 AO 1919 ergangene Entscheidung des RFH I A 273/33 vom 17. April 1934 (RStBl 1934, 594), mit der es für unzulässig erachtet wurde, die vorläufige Veranlagung nur deshalb vorzunehmen, weil der Steuerpflichtige nach § 162 Abs. 10 AO (1919) der Betriebsprüfung unterlag, ist auf die Vorschrift des § 100 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 AO (erstmals in Kraft getreten in der Fassung des § 28 des Einführungsgesetzes zu den Realsteuergesetzen vom 1. Dezember 1936, RStBl 1936, 1137 [1142]) nicht mehr anwendbar.

2. Im Streitfall hat das FA nach seiner Einlassung die Steuerpflichtigen deshalb vorläufig veranlagt, weil sie der Betriebsprüfung unterliegen. Es hat von einer endgültigen Steuerfestsetzung vor Durchführung der das Streitjahr erfassenden Betriebsprüfung abgesehen, weil ihm sachliche Gründe, die unter Berücksichtigung von Recht und Billigkeit eine solche endgültige Veranlagung erfordert hätten, nicht ersichtlich waren.

Da das Gesetz die vorläufige Veranlagung dem FA nicht zur Pflicht macht, vielmehr nur in sein Ermessen stellt, hat sich die Entscheidung des FA, die Veranlagung vorläufig durchzuführen, gemäß § 2 StAnpG nach Billigkeit und Zweckmäßigkeit, nach dem Gutachten des BFH Gr. S. D 1/51 S vom 17. April 1951 (BFH 55, 277, BStBl III 1951, 107) und nach den Urteilen des BFH II 56/57 U vom 11. Juni 1958 (BFH 67, 178, BStBl III 1958, 339) und VII 182/60 U vom 17. Dezember 1963 (BFH 78, 225, BStBl III 1964, 88) nach Recht und Billigkeit zu richten. Danach ist eine Abwägung der berechtigten Interessen der Steuerpflichtigen an einer alsbaldigen endgültigen Veranlagung und des FA an einer erleichterten Berichtigungsmöglichkeit geboten.

Im vorliegenden Streitfall haben die Steuerpflichtigen besondere Gründe, die ihr Verlangen nach einer alsbaldigen endgültigen Veranlagung für das Streitjahr rechtfertigen könnten, nicht vorgetragen. Sie haben ihr Begehren vielmehr allein darauf gestützt, daß das FA für die Vorläufigkeit der Veranlagung besondere Gründe haben und ihnen diese dartun müsse, anderenfalls ein Fehler in der Ausübung seines Ermessens gegeben sei. Sie haben sich für ihre Rechtsauffassung auf die vom Senat als überholt bezeichnete, die Vorschrift des § 100 Abs. 2 Satz 1 AO in ihrer für den Veranlagungszeitraum 1964 geltenden Fassung nicht (mehr) treffende Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs berufen. Das Gesetz sieht aber in seiner für den Streitfall geltenden Fassung eine weitere Begründung für die Vorläufigkeit der Veranlagung durch das FA nicht vor. Steuerpflichtige, die der Betriebsprüfung unterliegen, müssen - abgesehen von den durch die Verjährungsvorschriften gezogenen Grenzen - bis zur Durchführung einer den jeweiligen Veranlagungszeitraum erfassenden Betriebsprüfung mit Steuernachforderungen für diesen Veranlagungszeitraum rechnen, ohne daß sie - wie der BFH mit Urteil IV 51/62 vom 13. Januar 1966 (BFH 84, 517, BStBl III 1966, 189) entschieden hat - deshalb eine Rückstellung für die etwa noch geschuldeten Steuernachforderungsbeträge bilden könnten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 68561

BStBl II 1969, 474

BFHE 1969, 486

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