Entscheidungsstichwort (Thema)

Unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung; zur Ordnungsmäßigkeit der Verfahrensrüge

 

Leitsatz (NV)

1. Ein ordnungsgemäß gestellter Beweisantrag darf nur aus Gründen des formellen oder des materiellen Rechts unberücksichtigt bleiben, insbesondere wenn das Beweismittel schlechthin untauglich ist, wenn es auf die Beweistatsache nach der materiell- rechtlichen Auffassung des Gerichts nicht ankommt oder wenn die Beweistatsache als wahr unterstellt wird.

2. Nach Ablauf einer nach Art. 3 § 3 Abs. 1 Nr. 3 VGFGEntlG gesetzten Ausschlußfrist vorgetragene Beweismittel können nicht wegen einer Verzögerung des Rechtsstreits zurückgewiesen werden, wenn der in der mündlichen Verhandlung anwesende Zeuge vernommen werden könnte.

3. Es verstößt gegen das Verbot einer vorweggenommenen Beweiswürdigung zu Lasten der beweisbelasteten Partei, erhebliche Beweisantritte des Beteiligten mit der Begründung zu übergehen, von der Erhebung der Beweise seien keine zweckdienlichen Ergebnisse zu erwarten.

 

Normenkette

FGO § 76 Abs. 1, § 81 Abs. 1 S. 2, § 96 Abs. 1-2, § 120 Abs. 2 S. 2; GG Art. 20 Abs. 3, Art. 103 Abs. 1; VGFGEntlG Art. 3 § 3 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine KG. Ihr Kommanditist A betrieb bis zum 31. Dezember 1987 eine Schleiferei in der Rechtsform eines Einzelunternehmens. Zum 1. Januar 1988 traten sein Sohn B als Komplementär und A als Kommanditist mit einer Einlage von 300 000 DM ein. Am Gewinn und Verlust sind Vater und Sohn im Verhältnis 70 : 30 v. H. beteiligt.

A hatte mit notariellem Vertrag vom 3. Februar 1986 das Grundstück X zu einem Kaufpreis von 250 000 DM erworben. Das aufstehende, 1958 erbaute Fabrikationsgebäude war für einen marmorverarbeitenden Betrieb genutzt worden. Er baute dieses Gebäude in den Jahren 1986 und 1987 mit einem Kostenaufwand von 365 923 DM um. Das im Alleineigentum des A verbliebene Grundstück dient in vollem Umfang den betrieb lichen Zwecken der Klägerin.

Die Klägerin begehrte in der Hauptsache für das Streitjahr 1988 mit der Begründung, infolge des Umfangs der Umbauarbeiten sei ein völlig neues Gebäude entstanden, eine degressive Absetzung für Abnutzung (AfA) nach § 7 Abs. 5 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Höhe von 10 v. H. Im Anschluß an eine Außenprüfung ließ der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) in dem geänderten Gewerbesteuer-Meßbescheid für 1988 lediglich eine AfA in Höhe von 2 v. H. der Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten nach § 7 Abs. 4 Nr. 2 a EStG unter Zugrundelegung der gesetzlichen Nutzungsdauer von 50 Jahren zu. Der Einspruch der Klägerin blieb erfolglos.

Mit am 7. April 1992 eingegangenem Schriftsatz erhob die Klägerin gegen den geänderten Gewerbesteuer-Meßbescheid für 1988 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung Klage. Nachdem der Vorsitzende des Senats eine Frist zur Klagebegründung bis zum 8. Mai 1992 gesetzt hatte, beantragten die Prozeßvertreter der Klägerin mit Schriftsatz vom 21. April 1992 erneut eine Begründungsfrist bis zum 3. August 1992. Diesen Antrag lehnte der Vorsitzende des Senats mit Schreiben vom gleichen Tage ab. Die geltend gemachten Gründe rechtfertigten es nicht, das Gericht bis Anfang August 1992 darüber im unklaren zu lassen, was überhaupt begehrt werde. Mit Verfügung vom gleichen Tage setzte er nach Art. 3 § 3 Abs. 1 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFGEntlG) eine Ausschlußfrist bis zum 15. Juni 1992 "zum Vortrag der Tatsachen, die nach Ihrer Auffassung bei der Entscheidung des Streitfalles berücksichtigt werden müssen."

Mit Telefax vom 29. Juni 1992 reichten die Prozeßvertreter die Klagebegründung ein und begehrten eine AfA nach § 7 Abs. 5 Nr. 1 EStG.

Das FA vertrat die Auffassung, die Klagebegründung sei unentschuldigt verspätet. Ihre Berücksichtigung würde den Rechtsstreit verzögern; denn der Sachverhalt sei umfangreich und streitig.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 20. Juli 1992 erklärten die Prozeßbevollmächtigten zu der Säumnis, am 5. Juni 1992 habe der Berichterstatter auf telefonischen Antrag von Rechtsanwalt Y die Frist bis zum 29. Juni 1992 verlängert. Die Klagebegründung sei mithin fristgerecht eingegangen. Der Berichterstatter erklärte zur Niederschrift, sich an dieses Gespräch nicht erinnern zu können. Die Prozeßvertreter wiesen ferner darauf hin, daß sie den Architekten Z als präsenten Zeugen dabei hätten und dieser über das Ausmaß der Umgestaltung Auskunft geben könne.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unbegründet ab. Eine degressive AfA nach § 7 Abs. 5 Nr. 1 EStG komme nicht in Betracht. Die Klägerin habe die Voraussetzungen für die Annahme eines Neubaus nicht nachgewiesen. Die vorgelegten Fotografien belegten nur den Außenzustand nach dem Umbau. Die Behauptung, es handele sich um einen Neubau, lasse sich nur anhand der Bauunterlagen belegen. Etwaige Unklarheiten hätten sich durch den präsenten Zeugen, den Architekten des Bauvorhabens Z, klären lassen. Jedoch hätte die Einvernahme des Architekten allein eine abschließende Beurteilung nicht zugelassen. Der Senat habe auf die Anhörung des präsenten Zeugen Z verzichtet, weil diesem eine genaue und verständliche Schilderung nur bei Vorliegen der Baupläne möglich gewesen wäre. Er habe sich auch nicht veranlaßt gesehen, die Streitsache zu vertagen, um der Klägerin Gelegenheit zu geben, die Bauunterlagen einzureichen. Sie habe gewußt, daß der Sachverhalt streitig sei und aus der Stellungnahme des Beklagten vom 8. Juli 1992 Kenntnis gehabt, daß es für die Beurteilung entscheidend auf die Vorlage der Bauunterlagen angekommen sei. Deshalb sei es angezeigt gewesen, daß sie diese Bauunterlagen in der mündlichen Verhandlung mitbringe.

Unter diesen Umständen komme es nicht mehr darauf an, ob die Klägerin die ihr nach Art. 3 § 3 Abs. 1 VGFGEntlG gesetzte Frist eingehalten habe und der Senat deshalb nur noch eingeschränkt zur Beweiserhebung verpflichtet sei.

Die Frist sei unentschuldigt versäumt. Die Klägerin könne sich nicht auf das mit dem Berichterstatter geführte Telefonat berufen. Der Prozeßbevollmächtigte habe nämlich darin nicht zum Ausdruck gebracht, daß es sich um eine Ausschlußfrist handele, sondern den Eindruck erweckt, daß eine normale Klagebegründungsfrist verlängert werden sollte. Angesichts der Bedeutung der gesetzten Frist seien ein schriftlicher Antrag und eine schriftliche Genehmigung (§ 53 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --) erforderlich gewesen. Mangels einer schriftlichen Genehmigung habe die Klägerin nicht auf die begehrte Fristverlängerung vertrauen können. Jedenfalls habe der Berichterstatter keine Frist nach dem VGFGEntlG zugestehen wollen.

Der Hilfsantrag sei ebenfalls unbegründet. Das damit Begehrte habe das FA bei der Veranlagung bereits berücksichtigt.

Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 96 Abs. 2 FGO), mangelnde Sachaufklärung (§ 76 Abs. 1 FGO) sowie die Verletzung der Hinweispflichten nach § 76 Abs. 2 FGO.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, das Urteil des FG und den geänderten Gewerbesteuer-Meßbescheid für 1988 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung aufzuheben und eine AfA von 10 v. H. zuzulassen, hilfsweise eine lineare AfA nach § 7 Abs. 4 Satz 2 EStG unter Zugrundelegung einer nur noch zehnjährigen Nutzungsdauer anzusetzen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Das FG hat die ihm obliegende Ermittlungspflicht dadurch verletzt, daß es die Würdigung nicht erhobener Beweise vorweggenommen hat.

Die Rüge der Klägerin, das FG habe es unterlassen, den von ihr in die Verhandlung gestellten sachverständigen Zeugen (vgl. Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts -- BVerwG -- vom 6. Februar 1985 8 C 15.84, BVerwGE 71, 38, 42), nämlich den mit der Planung und Durchführung der gesamten Baumaßnahme beauftragt gewesenen Architekten Z, zu vernehmen und habe deshalb ein sachlich unzutreffendes Urteil gefällt, weil es aufgrund der sachkundigen und umfassenden Erläuterungen dieses Zeugen Inhalt und Umfang des Bauvorhabens sicher hätte feststellen können und den Umbau steuerrechtlich als Neubau beurteilt hätte, genügt den sich aus § 120 Abs. 2 Satz 2 FGO ergebenden Anforderungen an eine schlüssige Rüge eines Verfahrensmangels (vgl. dazu Beschluß des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 18. Januar 1993 X R 6/92, BFH/NV 1993, 670, 671 m. w. N. sowie BFH-Urteile vom 21. Januar 1993 XI R 35/92, BFH/NV 1993, 671, 672; vom 26. Februar 1985 VII R 137/81, BFH/NV 1986, 136, 137).

Die Rüge der mangelnden Sachaufklärung ist auch begründet.

Nach § 96 Abs. 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es hat gemäß § 76 Abs. 1 FGO den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen und dabei die erforderlichen Beweise (§ 81 Abs. 1 Satz 2 FGO) zu erheben.

Der nach der sachlich-rechtlichen Auffassung der Vorinstanz entscheidungserhebliche (vgl. dazu BFH-Beschluß vom 22. September 1993 VIII B 38/93, BFH/NV 1994, 387 m. w. N.) Beweisantrag der Klägerin hätte vom FG berücksichtigt werden müssen, da er weder aus formellen noch aus materiell-rechtlichen Gründen außer acht gelassen werden durfte.

Insoweit kann dahingestellt bleiben, ob Art. 3 § 3 Abs. 2 Satz 1 VGFGEntlG im Streitfall überhaupt anwendbar ist. Jedenfalls fehlte es bereits an einer möglichen Verzögerung des Rechtsstreits. Eine solche liegt nur dann vor, wenn der Rechtsstreit bei Zulassung des verspäteten Vorbringens länger dauern würde als bei dessen Zurückweisung. Durch die Vernehmung eines präsenten Zeugen wird der Rechtsstreit indessen nicht verzögert (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts -- BVerfG -- vom 31. Oktober 1988 2 BvR 95/88, Neue Juristische Wochenschrift -- NJW -- 1989, 705 mit umfassenden Nachweisen; Urteil des Bundesgerichtshofs -- BGH -- vom 12. Juli 1979 VII ZR 284/78, BGHZ 75, 138, 141; Greger in Zöller, Zivilprozeßordnung, 18. Aufl., § 296 Rz. 13 m. w. N.; Gießler, NJW 1991, 2885). Beweisanträge dürfen nach den auch im finanzgerichtlichen Verfahren anzuwendenden allgemeinen prozeßrechtlichen Grundsätzen grundsätzlich nur abgelehnt werden, wenn das vom Antragsteller angebotene Beweismittel schlechthin untauglich ist, wenn es auf die Beweistatsache -- nach Auffassung des FG -- nicht ankommt oder wenn die Beweistatsache als wahr unterstellt wird (BFH-Urteile vom 19. September 1985 VII R 164/84, BFH/NV 1986, 674, 675; vom 10. Januar 1978 VII R 106/74, BFHE 124, 305, BStBl II 1978, 311; von Groll/Gräber, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 76 Rz. 24; BVerwG-Entscheidungen vom 6. Februar 1985 8 C 15.84, BVerwGE 71, 38, 41, und vom 27. Oktober 1971 V C 78.70, BVerwGE 39, 36, 37; Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 9. Aufl., § 86 Rz. 6 a; derselbe in NJW 1988, 1708).

Unzutreffend ist die im Revisionsverfahren aufgestellte Behauptung des FA, auf den Beweisantrag sei es gar nicht angekommen, weil der Sachverhalt unstreitig gewesen sei. Dies widerspricht sowohl den für den Senat bindenden Feststellungen des FG als auch der Einlassung des FA im Klageverfahren, wonach es nicht möglich sein sollte, den Sachverhalt im Termin zur mündlichen Verhandlung mit geringem Aufwand zu ermitteln, weil dieser umfangreich und streitig sei.

Der beweiserhebliche Prozeßstoff ist vom erkennenden Gericht durch Beweisaufnahme auszuschöpfen. Beweiserhebungen dürfen sowohl nach dem Rechtsstaatsprinzip als auch nach dem Verfahrensgrundrecht aus Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes -- GG -- (vgl. BVerfG-Entscheidung vom 30. Januar 1985 1 BvR 393/84, BVerfGE 69, 141, 144 m. w. N.) nicht durch Mutmaßungen des Gerichts über den Ausgang einer Beweisaufnahme ersetzt werden. Es verstößt gegen das Verbot einer vorweggenommenen Beweiswürdigung zu Lasten der beweisbelasteten Partei, erhebliche Beweisantritte des Beteiligten mit der Begründung zu übergehen, von der Erhebung der Beweise seien keine zweckdienlichen Ergebnisse zu erwarten (BFH/NV 1993, 671, 672; BFH-Beschluß vom 21. Mai 1992 VIII B 76/91, BFH/NV 1993, 32, 33; Urteile vom 5. Februar 1992 I R 25/91, BFH/NV 1992, 678 -- nur Leitsatz --; vom 9. Juli 1985 IX R 53/80, BFH/NV 1986, 217, 218; vom 6. Februar 1985 II R 12/84, BFH/NV 1985, 41; in BFHE 124, 305, BStBl II 1978, 311; BVerfG-Beschluß vom 25. August 1986 2 BvR 823/86, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht -- NVwZ -- 1987, 785 mit umfassenden Nachweisen; BVerwG- Urteil vom 19. September 1986 4 C 47-- 52.84, NVwZ 1987, 405; BGH-Urteil vom 11. November 1980 X ZR 49/80 -- BPatG --, Monatsschrift für Deutsches Recht -- MDR -- 1981, 401).

Das FG hat insbesondere nicht festgestellt, das angebotene Beweismittel wäre schlechterdings untauglich gewesen. Für eine solche Annahme fehlt es überdies an entsprechenden Anhaltspunkten.

Das FG hätte den beantragten Zeugenbeweis erheben müssen und allenfalls dann, wenn die Vernehmung des Architekten Z ohne Beiziehung der Bauakten nicht zur völligen Aufklärung des Sachverhalts geführt hätte, von der Erhebung weiterer Beweise unter den Voraussetzungen des Art. 3 § 3 VGFGEntlG absehen dürfen.

Ob die weiteren Verfahrensrügen ebenfalls durchgreifen, bedarf keiner Entscheidung.

Die Vorentscheidung kann auf dem Verfahrensmangel beruhen, da nicht auszuschließen ist, daß das FG zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Andererseits sind dem Senat eigene Tatsachenfeststellungen verwehrt (§ 118 Abs. 2 FGO), so daß er somit nicht durchzuerkennen vermag. Die Sache geht daher an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück.

Zur materiell-rechtlichen Frage verweist der Senat ergänzend auf das Urteil des BFH vom 31. März 1992 IX R 175/87, BFHE 168, 109, BStBl II 1992, 808 m. w. N.).

 

Fundstellen

Haufe-Index 423546

BFH/NV 1995, 717

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