Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör

 

Leitsatz (NV)

Das FG ist verpflichtet, einen Schriftsatz eines Beteiligten zu berücksichtigen, der zwar nach der Beschlußfassung über das Urteil, aber vor dessen Verkündung oder Zustellung eingeht. Kommt das FG dieser Verpflichtung nicht nach, so verletzt es den Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör.

 

Normenkette

FGO § 119 Nr. 3

 

Verfahrensgang

FG Hamburg

 

Tatbestand

Streitig ist, ob für die Einfuhr zweier Elektronenmikroskope in die Gemeinschaft eine Zollbefreiung versagt werden kann, weil gleichwertige wissenschaftliche Geräte in der Gemeinschaft hergestellt werden. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab (Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1986, 460) und ließ die Revision zu. Ihre Revision mit dem Antrag, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen, begründet die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) u. a. damit, das FG habe ihr dadurch das rechtliche Gehör versagt, daß es ihre Schriftsätze nicht berücksichtigt habe. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Hauptzollamt - HZA -) beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Zur genannten Rüge der Klägerin bemerkt das HZA, daß die Schriftsätze der Klägerin vom FG noch zu berücksichtigen gewesen wären, wenn man der Auffassung des Bundesfinanzhofs (BFH) im Beschluß vom 16. Oktober 1970 VI B 24/70 (BFHE 100, 351, BStBl II 1971, 25) folge.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Das FG hat der Klägerin das rechtliche Gehör versagt. Damit ist ein absoluter Revisionsgrund nach § 119 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gegeben.

Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist das FG verpflichtet, einen Schriftsatz der Beteiligten zu berücksichtigen, der zwar nach der Beschlußfassung über das Urteil, aber vor dessen Verkündung oder Zustellung eingeht (zuletzt Beschluß vom 11. August 1987 VII B 165/86, BFH / NV 1988, 310, mit Hinweisen auf die höchstrichterliche Rechtsprechung). Kommt das FG dieser Verpflichtung nicht nach, so verletzt es den Anspruch des betr. Beteiligten auf rechtliches Gehör. Denn das Gericht muß Anträge und Erklärungen der Beteiligten zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen, die ihm vor dem Ergehen der Entscheidung zugehen. Als maßgebender Zeitpunkt ist dabei die Verkündung des Urteils oder sein Herausgeben zur Zustellung anzusehen (vgl. Beschluß in BFHE 100, 351, BStBl II 1971, 25). Haben die Beteiligten wie hier nach § 90 Abs. 2 FGO auf mündliche Verhandlung verzichtet, so bedeutet dies, daß auch Schriftsätze berücksichtigt werden müssen, die nach der Beratung des FG, aber vor Absendung der Urteilsausfertigungen eingegangen sind. Dieses Gebot hat das FG nicht beachtet.

Die Vorentscheidung hat das FG in der Sitzung vom 24. Januar 1986 getroffen. Nach den finanzgerichtlichen Akten sind die Schriftsätze der Klägerin . . . . . . am . . . ., also nach der Beschlußfassung, beim FG eingegangen. Daraus ergibt sich schlüssig, daß das FG diese Erklärungen der Klägerin bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt und damit den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt hat (vgl. auch Gräber / Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 119 Anm. 15; v. Wallis in Hübschmann / Hepp / Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 119 FGO Anm. 6; Tipke /Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 119 FGO Anm. 15).

Anders müßte allenfalls dann entschieden werden, wenn die Klägerin ihrer Prozeßverantwortung nicht gerecht geworden wäre und die ihr über einen langen Zeitraum gebotene Gelegenheit zur Äußerung erst zu einem Zeitpunkt wahrgenommen hätte, in dem sie damit hätte rechnen müssen, daß die Äußerung den zuständigen Spruchkörper des Gerichts nicht mehr rechtzeitig vor einer zu erwartenden Urteilsverkündung erreichen kann (vgl. BFH-Beschluß vom 27. Juni 1985 I B 28/85, BFHE 144, 139, BStBl II 1985, 626). Dieser Fall ist hier aber nicht gegeben. Denn noch am 9. Januar 1986 hat das FG ein ihm kurz zuvor zugegangenes Schriftstück der Zolltechnischen Prüfungs- und Lehranstalt der Oberfinanzdirektion den Beteiligten zur Kenntnis zugesandt. Die Klägerin konnte also damit rechnen, daß ihre Äußerungen vom 23. und 29. Januar 1986 das FG noch rechtzeitig vor der Beschlußfassung erreichen würden.

Obwohl es sich bei der Verletzung des rechtlichen Gehörs um einen absoluten Revisionsgrund handelt, wird allgemein angenommen, daß nicht in jedem Fall der Nichtgewährung des rechtlichen Gehörs die Vorentscheidung aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen werden muß; handelt es sich etwa um eine einzelne tatsächliche Feststellung, auf die es unter keinem denkbaren Gesichtspunkt ankommen kann, so bedeutet die Zurückverweisung nur eine nicht vertretbare Förmelei (Gräber / Ruban, a. a. O., § 119 Anm. 14 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). So liegt der Fall hier aber nicht. Die Schriftsätze der Klägerin enthalten Beweisanträge und ergänzende Rechtsausführungen sowie den Antrag auf Zulassung der Revision. Diese Ausführungen können nicht von vornherein als unwesentlich für die Beschlußfassung des FG angesehen werden.

Da die Ursächlichkeit des Mangels für die Vorentscheidung unwiderleglich vermutet wird (§ 119 FGO), ist der Senat gehalten, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache ohne eine Äußerung zur Sache selbst an die Vorinstanz zurückzuverweisen (vgl. Gräber / Ruban, a. a. O., § 119 Anm. 3, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des BFH).

 

Fundstellen

Haufe-Index 416211

BFH/NV 1989, 702

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