Entscheidungsstichwort (Thema)

Einkommensteuer, Lohnsteuer, Kirchensteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Hat ein rassisch Verfolgter den seinem Vater durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen entzogenen Betrieb vor Kriegsende geerbt, ohne daß er während der Entziehungsperiode die Erbschaft auch tatsächlich übernehmen konnte, so kann darin der Verlust einer eigenen Erwerbsgrundlage im Sinne des § 10 a EStG 1955 liegen.

EStG 1955 § 10 a.

 

Normenkette

EStG § 10a

 

Tatbestand

Die drei Bf. sind Geschwister und als Juden Verfolgte; sie sind in Deutschland geboren und leben jetzt in den Vereinigten Staaten. Sie sind Gesellschafter (Mitunternehmer) der Firma X.-OHG; mit den Gewinnanteilen sind sie in der Bundesrepublik beschränkt steuerpflichtig. Sie beantragen die Steuerbegünstigung des § 10 a EStG 1955 für ihren nicht entnommenen Gewinn. Ihr Vater verstarb im Jahre 1944 im Ausland. Er war früher alleiniger Inhaber der Firma A. gewesen, die ihm im Jahre 1938 durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen entzogen wurde. Die Bf. standen damals im Alter von 11 bis 14 Jahren. Seitdem das väterliche Unternehmen im Jahre 1950 zurückerstattet wurde, sind sie zusammen mit ihrer Mutter und dem inzwischen verstorbenen Kaufmann K., der im Jahre 1938 den Betrieb übernommen hatte, Mitunternehmer der X.-OHG. Das Finanzamt lehnte den Antrag auf Anwendung des § 10 a EStG 1955 ab, weil die Bf. im Jahre 1938 noch Kinder gewesen seien und keine eigene Erwerbsgrundlage gehabt hätten; die Einsprüche blieben erfolglos. Das Finanzgericht trat im Ergebnis dem Finanzamt bei.

 

Entscheidungsgründe

Die Rbn. sind begründet.

Zutreffend ist das Finanzgericht davon ausgegangen, daß die Steuerbegünstigung des § 10 a EStG 1955 nur solchen Steuerpflichtigen zusteht, die durch die aus rassischen Gründen erlittene nationalsozialistische Verfolgung eine eigene Erwerbsgrundlage verloren haben. Insoweit gelten für rassisch Verfolgte dieselben Grundsätze, wie sie der Senat in der Entscheidung VI 147/60 S vom 23. September 1960 (BStBl 1960 III S. 462) für Vertriebene ausgesprochen hat. Im Gegensatz zum Finanzgericht nimmt der Senat aber an, daß die Bf. eine eigene Erwerbsgrundlage verloren haben. Als der Betrieb im Jahre 1938 entzogen wurde, verlor allerdings dadurch nur der Vater unmittelbar seine Erwerbs- und Existenzgrundlage. Wenn auch seine Ehefrau und Kinder in ihrer wirtschaftlichen Existenz mitbetroffen und in ihren Erbaussichten geschädigt wurden, so verloren sie damit doch keine eigene Erwerbsgrundlage im Sinne des § 10 a EStG 1955, wie sich aus den Gründen der Entscheidung VI 147/60 S, a. a. O., ergibt und auch das Finanzgericht zutreffend darlegt. Entscheidend ist aber im Streitfall, daß, als der Vater im Jahre 1944 im Ausland starb, die Bf. als seine Erben durch die fortdauernde Verfolgung gehindert waren, die ihnen rechtlich angefallene Erbschaft auch tatsächlich anzutreten. In der Entscheidung VI 147/60 S, a. a. O., ist ausgeführt, daß der Verlust einer eigenen Erwerbsgrundlage auch angenommen werden kann, wenn ein minderjähriges Kind vor der Vertreibung den elterlichen Betrieb bereits geerbt hatte, also rechtlich dessen Eigentümer war, auch wenn es in dem Betrieb noch nicht mitgearbeitet hatte. Die Bf. folgern daraus, daß sie zwar nicht im Jahre 1938, wohl aber beim Tode ihres Vaters im Jahre 1944 eine eigene Erwerbsgrundlage im Sinne des § 10 a EStG 1955 verloren haben. Dem ist zuzustimmen. Im Gegensatz zur Vertreibung, die ein einmaliger Akt war, war die nationalsozialistische Entziehung von jüdischem Vermögen ein Zustand, der von der Entziehungsmaßnahme bis zur Beendigung der nationalsozialistischen Herrschaft dauerte. Wenn innerhalb der Entziehungsperiode der Erbfall eintrat, der Erbe aber als Verfolgter die Erbschaft nicht tatsächlich übernehmen konnte, so ist es vertretbar, anzunehmen, daß der Verfolgte selbst dadurch im Zeitpunkt des Erbfalls eine eigene Erwerbsgrundlage verlor, sofern die Erbschaft geeignet war, eine wirtschaftliche Existenzgrundlage für ihn zu bilden. Für diese Auslegung spricht auch, wie die Bf. ausführen, daß die Rückerstattungsgesetze grundsätzlich die Rechtslage schaffen wollen, wie sie vor der Entziehung bestand; die Betroffenen sollen grundsätzlich so gestellt werden, wie sie gestanden hätten, wenn ihnen das Vermögen nicht entzogen worden wäre. Zur Klarstellung wird aber darauf hingewiesen, daß die vorstehende Auslegung des § 10 a EStG 1955 nur für die Fälle gilt, in denen der Erbfall vor der Beendigung der Herrschaft des Nationalsozialismus, das heißt vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, eingetreten ist; denn nur bis zu diesem Zeitpunkt dauerte die Verfolgung aus rassischen Gründen. Wenn der Erbfall erst nach Kriegsende eingetreten ist, die Erben aber nicht alsbald ihre Erbschaft antreten konnten, so beruhte das nicht mehr unmittelbar auf Verfolgungsmaßnahmen des Nationalsozialismus, sondern auf Schwierigkeiten anderer Art. In Fällen dieser Art können die aus rassischen Gründen Verfolgten nicht bessergestellt werden als die bei Kriegsende aus ihrer Heimat Vertriebenen, bei denen auch die nach der Vertreibung eingetretenen Erbfälle nicht den Verlust einer eigenen Erwerbsgrundlage bedeuten (Urteil des Senats VI 165/60 S vom 23. September 1960, BStBl 1960 III S. 464).

Das Finanzamt weist darauf hin, daß nach der Entscheidung VI 147/60 S, a. a. O., zum Begriff Erwerbsgrundlage gehöre, daß der Steuerpflichtige aus der verlorenen Tätigkeit oder dem entzogenen Vermögen vorher im wesentlichen seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte und tatsächlich auch bestritten hat; es meint, die Bf. hätten beim Erbfall im Jahre 1944 zwar das väterliche Vermögen rechtlich erworben; sie hätten aber wegen der Verfolgung bis zum Ende der Entziehungsperiode nicht tatsächlich ihren Lebensunterhalt daraus bestritten. Wenn auch dieser Einwand des Finanzamts beachtlich ist und der Senat grundsätzlich an den Voraussetzungen seiner Entscheidung VI 147/60 S, a. a. O., festhält, so ist es in Fällen der vorliegenden Art doch, wie das Finanzamt zugibt, von Bedeutung, daß es der Billigkeit und der Tendenz der Rückerstattungsgesetze widersprechen würde, einem Verfolgten einen Nachteil daraus entstehen zu lassen, daß er während der Entziehungsperiode sein Vermögen nicht auch tatsächlich nutzen konnte. Der Senat würde es übrigens auch bei einem minderjährigen Kind, dem schon vor der Vertreibung der väterliche Betrieb als Erbe gehörte, einen Verlust der Erwerbsgrundlage annehmen, wenn das Kind nicht aus dem gewerblichen Einkommen lebte, weil es z. B. von den Großeltern unterhalten wurde oder zunächst rechtliche Zweifel über die Erbfolge bestanden; es muß in solchen Fällen genügen, daß das Vermögen rechtlich dem Vertriebenen oder Verfolgten gehörte und daß es so beträchtlich war, daß er daraus seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte, und, wenn die Vertreibung oder die Entziehung nicht eingetreten wäre, auch bestritten hätte. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt.

Nach allem waren die Vorentscheidungen, wie geschehen, wegen unrichtiger Anwendung des § 10 a EStG 1955 aufzuheben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 409920

BStBl III 1961, 62

BFHE 1961, 167

BFHE 72, 167

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