Leitsatz (amtlich)

1. Wird ein die Revision enthaltendes Telegramm so rechtzeitig aufgegeben, daß mit seinem Eingang beim FG bel normaler Beförderungsdauer noch vor Ablauf der Revisionsfrist gerechnet werden kann, wird das Telegramm aber infolge eines Postversehens erst nach Fristablauf zugestellt, so ist dem Revisionskläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

2. Zur Frage, wann die Revisionsbegründungsfrist zu laufen beginnt, wenn der Revisionskläger die Revisionsfrist versäumt hat und ihm wegen dieser Versäumung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird.

 

Normenkette

FGO § 56 Abs. 1, § 120 Abs. 1 S. 1

 

Tatbestand

Die Revisionen werden zur gemeinsamen Entscheidung nach § 73 FGO verbunden.

Die Urteile des FG wurden dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) laut Postzustellungsurkunde am 3. Januar 1975 zugestellt. Gegen die Urteile legte der Kläger telegrafisch Revisionen ein. Nach Auskunft der Post wurde das Telegramm am 3. Februar 1975 um 17.33 Uhr in Friedberg (Hessen) aufgegeben und ist bei der Telegrammstelle am Zustellort (Kassel) am 3. Februar 1975 um 18.04 Uhr eingegangen. Infolge eines Versehens der zuständigen Postbearbeiterin wurde das Telegramm nicht sofort, sondern erst am 4. Februar 1975 (um 10.08 Uhr) dem FG zugestellt.

Mit Schreiben vom 27. Februar 1975, das am 28. Februar 1975 beim BFH einging, beantragte der Kläger, die Frist für die Begründung der Revisionen bis zum 15. März 1975 zu verlängern.

Mit Verfügung des Senatsvorsitzenden vom 3. März 1975 wurden die Prozeßbeteiligten auf den verspäteten Eingang der Revisionen hingewiesen. Unter Bezugnahme auf § 56 Abs. 1 FGO wurde dem Kläger anheimgegeben, Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand innerhalb der nach § 56 Abs. 2 FGO vorgeschriebenen Frist von zwei Wochen zu stellen. Den Beteiligten wurde weiter bekanntgegeben, daß die Entscheidung über den Antrag auf Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zur Entscheidung des Senats über die Wiedereinsetzung zurückgestellt wird. Dem Kläger wurde anheimgestellt, die Begründung der Revisionen "innerhalb der beantragten Frist auf jeden Fall vorsorglich einzureichen".

Mit Schreiben vom 12. März 1975, das am 13. März 1975 beim BFH einging, beantragte der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung berief er sich darauf, daß sein Prozeßbevollmächtigter vor der Telegrammaufgabe wegen der voraussichtlichen Übermittlungsdauer fernmündlich eine Auskunft eingeholt habe; dabei sei ihm erklärt worden, daß zwischen der Aufgabe des Telegramms und seinem Eintreffen im ungünstigsten Fall 90 Minuten vergehen würden. Bei dieser Sachlage habe er damit rechnen können, daß das Telegramm fristgerecht beim FG eingehe. Es sei so rechtzeitig aufgegeben worden, daß der Telegrammbote es noch vor Fristablauf in den Nachtbriefkasten des Gerichts hätte einwerfen können. Daß dies nicht geschehen sei, beruhe auf einem Verschulden der Post. - Gleichzeitig mit dem Wiedereinsetzungsgesuch legte der Kläger die Revisionsbegründung vor.

 

Entscheidungsgründe

Dem Senat erscheint es geboten, über die Zulässigkeit der Revisionen eine Zwischenentscheidung zu treffen (§§ 97, 121 FGO; vgl. BFH-Urteile vom 21. April 1966 IV 240/65, BFHE 86, 301, BStBl III 1966, 466; vom 16. Dezember 1971 I R 212/71, BFHE 104, 493, BStBl II 1972, 425).

1. Die Revisionen sind zwar verspätet eingelegt worden; dem Kläger wird jedoch wegen der Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Nach § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO ist die Revision innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem FG schriftlich einzulegen.

a) Die vom Gesetz geforderte Schriftform ist im Streitfall eingehalten worden. Das Erfordernis der schriftlichen Einlegung bedeutet, daß die Revision grundsätzlich handschriftlich unterzeichnet sein muß (vgl. BFH-Beschluß vom 5. November 1973 GrS 2/72, BFHE 111, 278, BStBl II 1974, 242). Die Einlegung darf aber auch durch Telegramm erfolgen (BFH-Beschluß vom 21. Juni 1968 III B 36/67, BFHE 92, 438, BStBl II 1968, 589); in diesem Fall ist die handschriftliche Unterzeichnung entbehrlich.

b) Dagegen fehlt es im Streitfall am fristgerechten Eingang der Revisionen beim FG. Für den Fristablauf gelten die Vorschriften der §§ 222, 224 Abs. 2 und 3 sowie der §§ 225 und 226 ZPO (§ 54 Abs. 2 FGO). Hiernach endet eine Frist, die nach Monaten bestimmt ist, mit dem Ablauf desjenigen Tages des (letzten) Monats, welcher durch seine Zahl dem Tag entspricht, an dem das Urteil bekanntgegeben wurde (§ 222 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 188 Abs. 2 BGB). Im Streitfall wurden die Urteile des FG dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers am 3. Januar 1975 zugestellt; die Frist für die Einlegung der Revisionen endete sonach am (Montag, dem) 3. Februar 1975. Das Telegramm, mit dem der Kläger Revisionen gegen die Urteile des FG einlegen wollte, ist erst am 4. Februar 1975 - und damit verspätet - eingegangen.

c) Wegen der Versäumung der Revisionsfrist ist dem Kläger jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 56 FGO) zu gewähren. Eine Wiedereinsetzung findet statt, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten (§ 56 Abs. 1 FGO). Eine Fristversäumnis ist als entschuldigt anzusehen, wenn sie durch die äußerste, den Umständen des Falles angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhindert werden konnte (BFH-Beschlüsse vom 25. April 1968 VI R 76/67, BFHE 92, 320, BStBl II 1968, 585; vom 29. September 1971 I R 174/70, BFHE 103, 135, BStBl II 1972, 19). Der Kläger hat glaubhaft gemacht, daß diese Voraussetzungen im Streitfall vorgelegen haben.

Unter den gegebenen Umständen konnte nämlich der Prozeßbevollmächtigte des Klägers damit rechnen, daß das von ihm am 3. März 1975 um 17.33 Uhr in Friedberg aufgegebene Telegramm noch am selben Tage dem FG zugestellt werde. Nach § 26 Abs. 12 Nr. 2 der Telegrafenordnung vom 30. Juni 1926 in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. Oktober 1970 (BGBl I 1970, 1423), zuletzt geändert durch Art. 3 der Ersten Verordnung zur Änderung der Fernmeldeordnung vom 7. März 1972 (BGBl I 1972, 306), werden Telegramme für eine Behörde oder deren Leiter, wenn diese nicht schriftlich anders verfügt haben, dadurch zugestellt, daß sie dem Leiter selbst oder seinem Beauftragten ausgehändigt werden. Ist diese Art der Zustellung nicht möglich, so können Telegramme beim Empfänger auch in den Briefkasten gelegt werden (§ 26 Abs. 13 der Telegrafenordnung). Hiernach mußte zwar davon ausgegangen werden, daß ein am 3. März 1975 um 17.33 Uhr in Friedberg aufgegebenes Telegramm beim FG in Kassel erst nach Dienstschluß eintreffen und dort möglicherweise niemand mehr zugegen sein würde, dem das Telegramm hätte ausgehändigt werden können. Dennoch konnte angenommen werden, daß die Post die Eilbedürftigkeit der Zustellung erkennen und deshalb den Boten anweisen würde, das Telegramm noch am Abend desselben Tages in den Nachtbriefkasten des FG zu werfen (BFH-Beschluß III B 36/67).

Falls ein Nachtbriefkasten nicht vorhanden gewesen sein sollte, könnte allerdings die Auffassung vertreten werden, daß unter den gegebenen Umständen mit einem verspäteten Eingang der Revisionen gerechnet werden mußte, weil das Telegramm nicht so rechtzeitig aufgegeben worden war, daß es bis zum Dienstschluß des letzten Tages der Frist von einem zur Entgegennahme des Telegramms befugten Beamten hätte in Empfang genommen werden können (vgl. Beschluß des BGH vom 25. April 1951 II ZB 6/51, BGHZ 2, 31; Urteile des Bundesarbeitsgerichts - BAG - vom 6. Mai 1960 5 AZR 586/59, NJW 1960, 1543, und vom 21. Oktober 1963 5 AZR 1/63, NJW 1964, 369). Angesichts der Bedeutung der gesetzlichen Fristen muß jedoch davon ausgegangen werden, daß das Recht jedes Verfahrensbeteiligten auf Ausschöpfung dieser Fristen durch Anbringung von Nachtbriefkästen berücksichtigt wird; ist das nicht der Fall, so ist einem Rechtsbehelfsführer zumindest Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (BFH-Beschluß vom 21. November 1974 IV B 66-67/74, BFHE 114, 321, BStBl II 1975, 300).

2. Unter den gegebenen Umständen muß der Eingang der Revisionsbegründung innerhalb der bis zum 15. März 1975 verlängerten Revisionsbegründungsfrist als rechtzeitig angesehen werden.

Nach § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO ist die Revision spätestens innerhalb eines Monats nach Ablauf der Revisionsfrist zu begründen. Die Frage, wann die Revisionsbegründungsfrist zu laufen beginnt, falls der Revisionskläger die Revisionsfrist versäumt hat und ihm wegen dieser Versäumung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird, ist in Rechtsprechung und Schrifttum umstritten. Im wesentlichen werden folgende Ansichten vertreten:

a) Die Revisionsbegründungsfrist beginnt mit der Einlegung der Revision (so Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 29. Oktober 1958 11/8 RV 1301/56, BSGE 8, 207; Becker/Riewald/Koch, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 9. Aufl., Bd. III, Anm. 2 Abs. 4 zu § 120 FGO; vgl. auch Gräber, Deutsche Steuer-Zeitung, Ausgabe A 1967 S. 309 [312]).

b) Die Revisionsbegründungsfrist beginnt mit der Zustellung der Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionsfrist (Beschluß des Großen Senats des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 30. November 1970 GrS 1.69, BVerwGE 36, 340; BFH-Beschluß vom 21. Januar 1972 III R 118/71 (n. v.); Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 7. Aufl., Anm. 10 zu § 120 FGO; v. Wallis/List in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 1.-6. Aufl., Anm. 23 zu § 120 FGO; Ziemer/Birkholz, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., Tz. 22 zu § 120).

c) Die Revisionsbegründungsfrist beginnt mit Ablauf der nach dem Gesetz zu errechnenden Revisionseinlegungsfrist. Ist die Revisionsbegründungsfrist in dem Zeitpunkt, in dem der Antrag auf Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Revisionseinlegungsfrist gestellt wird, noch nicht abgelaufen, so kann Antrag auf Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist gemäß § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO gestellt werden; ist die Revisionsbegründungsfrist dagegen versäumt, muß Antrag auf Wiedereinsetzung auch hinsichtlich der Revisionsbegründungsfrist gestellt werden (BFH-Urteil vom 7. Dezember 1971 VII R 108/69, BFHE 104, 184, BStBl II 1972, 224).

Der Senat braucht im Streitfall nicht zu entscheiden, welcher Ansicht er sich anschließt. Denn nach jeder der erwähnten Auffassungen wäre die Revisionsbegründungsfrist im Streitfall gewahrt. - Würde man mit dem BSG (Urteil 11/8 RV 1301/56) davon ausgehen, daß die Revisionsbegründungsfrist mit der Einlegung der Revision zu laufen beginnt (Auffassung a), so fiele der Beginn der Frist auf den 5. Februar 1975; die Frist wäre in diesem Fall gemäß § 222 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 188 Abs. 2 BGB am 4. März 1975 (Dienstag) abgelaufen. Da der Kläger rechtzeitig vor Fristablauf - nämlich am 28. Februar 1975 - beantragt hat, die Frist für die Begründung der Revision bis zum 15. März 1975 zu verlängern und der Senatsvorsitzende ihm hierauf anheimstellte, die Revisionsbegründung innerhalb der beantragten Frist einzureichen, ist die am 13. März 1975 eingegangene Begründung fristgerecht abgegeben worden. - Würde man sich der im Beschluß des BVerwG GrS 1.69 vertretenen Auffassung anschließen, nach der die Revisionsbegründungsfrist erst mit der Zustellung der Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu laufen beginnt (Ansicht b), so wäre die Frist im Streitfall noch nicht in Gang gesetzt worden. - Die Revisionsbegründung müßte schließlich auch dann als rechtzeitig eingelegt angesehen werden, wenn man mit dem VII. Senat des BFH (Urteil VII R 108/69) der Meinung wäre, die Revisionsbegründungsfrist beginne schon mit Ablauf der Revisionseinlegungsfrist (Ansicht c). Denn der Kläger hat rechtzeitig vor Ablauf der hiernach maßgeblichen Revisionsbegründungsfrist einen Antrag auf Fristverlängerung gestellt; die Revisionsbegründung ist innerhalb der begehrten Fristverlängerung eingegangen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 71934

BStBl II 1976, 624

BFHE 1977, 208

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