Leitsatz (amtlich)

Ein Rechtsbehelf kann vor Bekanntgabe des anzufechtenden, nach dem Gesetz schriftlich zu erteilenden Bescheides nicht rechtswirksam eingelegt werden.

 

Normenkette

AO § 236 Abs. 1

 

Tatbestand

Streitig ist die Zulässigkeit des von dem Kläger und Revisionskläger (Kläger) in seiner Umsatzsteuersache 1968 erhobenen Einspruchs.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) hatte den Kläger mangels Abgabe von Steuererklärungen für das Jahr 1968 nach geschätzten Besteuerungsmerkmalen zur Einkommensteuer und Umsatzsteuer veranlagt. Die Eingabewertbogen waren am 1. Oktober 1971 abschließend gezeichnet worden. Noch vor der Bekanntgabe der Bescheide legte der Prozeßbevollmächtigte, der von der Durchführung der Veranlagungen Kenntnis erlangt hatte, mit Schreiben vom 10. November 1971 namens und im Auftrag des Klägers "gegen Einkommensteuerbescheid und Umsatzsteuerbescheid für 1968" Einspruch ein; die Begründung werde mit der Abgabe der Steuererklärung verbunden werden.

Die nach Maßgabe der Eingabewertbogen gefertigten Steuerbescheide gab das FA am 29. November 1971 (Umsatzsteuer) bzw. am 6. Dezember 1971 (Einkommensteuer) mit einfachen Briefen zur Post auf. Da der Kläger die Einsprüche (vom 10. November 1971) trotz mehrfacher Aufforderung (z. Hd. seines Prozeßbevollmächtigten) nicht begründete, teilte die Rechtsbehelfsstelle des FA, der die Einsprüche inzwischen zur Bearbeitung zugeleitet worden waren, dem Kläger unter dem 11. Juli 1972 mit, daß seine Einsprüche - als bereits vor Bekanntgabe der Steuerbescheide erhoben - als unzulässig verworfen werden müßten. Da der Kläger dieses Schreiben trotz Aufforderung zur Gegenäußerung unbeantwortet ließ, verwarf das FA die Einsprüche mit Bescheiden vom 25. bzw. 26. Juli 1972 als unzulässig. Die Einspruchsentscheidungen wurden dem Kläger z. Hd. seines Prozeßbevollmächtigten am 8. August 1972 mit Postzustellungsurkunde zugestellt.

Die mit Schriftsatz vom 8. September 1972 zum Finanzgericht (FG) erhobenen Klagen wurden abgewiesen. Das FG führte in seinen inhaltlich im wesentlichen übereinstimmenden Entscheidungen aus:

Die Bekanntgabe der angefochtenen Bescheide sei gemäß § 17 Abs. 2 VwZG als am 2. bzw. 9. Dezember 1971 bewirkt anzusehen. Da der Kläger innerhalb der Rechtsbehelfsfrist des § 236 Abs. 1 AO von einem Monat seit der Bekanntgabe der Bescheide keinen Einspruch erhoben hätte, seien die Bescheide unanfechtbar geworden. Der Einwand des Klägers, daß ihm (in der Person seines Prozeßbevollmächtigten) am 10. November 1971 vom Sachbearbeiter des FA mündlich erklärt worden sei, die Steuer sei aufgrund geschätzter Besteuerungsmerkmale festgesetzt worden, die Bescheide hierüber seien "herausgegangen", greife nicht durch, da diese Mitteilung die Rechtsbehelfsfrist noch nicht in Lauf gesetzt habe; ein wirksamer Rechtsbehelf habe vor der schriftlichen Bekanntgabe der Bescheide (§ 210b AO) nicht eingelegt werden können.

Nachsicht wegen Versäumung der Rechtsbehelfsfrist habe das FA dem Kläger zu Recht nicht gewährt, da nicht ersichtlich sei, daß der Kläger, der sich ein Verschulden seines Steuerbevollmächtigten zurechnen lassen müßte (§ 86 Abs. 1 Satz 2 AO), ohne sein Verschulden an der Einhaltung der Frist gehindert gewesen sei (§ 86 Abs. 1 Satz 1 AO). Die mündliche Mitteilung des Sachbearbeiters des FA habe beim Prozeßbevollmächtigten des Klägers keinen Irrtum über den Beginn des Laufes der Rechtsbehelfsfrist auslösen können, da nur er selbst in der Lage gewesen sei festzustellen, wann die schriftlichen Steuerbescheide in seinen Machtbereich gelangt und damit bekanntgegeben gewesen seien.

Nachsicht wäre aber selbst bei entschuldbarer Versäumung der Rechtsmittelfrist nicht zu gewähren gewesen, da die Frist zur Nachholung der versäumten Rechtshandlungen (§ 86 Abs. 2 AO) spätestens mit dem Zugang des Schreibens vom 11. Juli 1972 zu laufen begonnen habe und noch vor Zustellung der Einspruchsentscheidungen (am 8.August 1972) verstrichen gewesen sei, ohne daß die versäumten Rechtshandlungen nachgeholt gewesen wären. Dem stehe auch nicht entgegen, daß der Kläger vom FA mehrfach zur Begründung seiner Einsprüche (vom 10. November 1971) aufgefordert worden sei, da diese Aufforderungen ihm zeitlich erst nach Ablauf der Rechtsbehelfsfristen (am 2. bzw. 9. Dezember 1971) - ab Januar 1972 - zugegangen seien.

Gegen die zunächst als Vorbescheid erlassene Entscheidung des FG, zugestellt am 8. Mai 1973 und mit Urteilswirkung ausgestattet vom 9. Juli 1973 ab, hat der Kläger form- und fristgerecht am 6. Juli 1973 beim FG Revision eingelegt und die Revision mit Schriftsatz vom 7. August 1973 begründet. Er beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben. Mit der mündlichen Mitteilung vom 10. November 1971 sei die Beschwer gegeben gewesen und die Rechtsbehelfsfrist in Lauf gesetzt worden. Das FA habe selbst die Einsprüche als rechtmäßig angesehen, wie die mehrfachen Aufforderungen zu ihrer Begründung bestätigten. Das Schreiben der Rechtsbehelfsstelle des FA vom 11. Juli 1972, mit dem eine andere Auffassung vertreten werde, sei seinem Prozeßbevollmächtigten erst nach Rückkehr von einem Kuraufenthalt bekanntgeworden, von dessen Dauer (vom 12. Juli bis 5. August 1972) er das FA anläßlich seines Antrags um Fristverlängerung für die Abgabe der Steuererklärung 1970 mit Schreiben vom 30. Juni 1972 in Kenntnis gesetzt habe. Die Stellung eines Antrags auf Nachsichtgewährung sei ihm damit unmöglich gewesen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet.

1. Wenngleich es möglich ist, unter bestimmten Voraussetzungen bereits vor der Bekanntgabe eines schriftlich zu erteilenden Steuerbescheids rechtswirksam auf die Einlegung des Einspruchs zu verzichten (vgl. § 235 AO; Urteil des BFH vom 4. August 1960 IV 319/59 U, BFHE 71, 480, BStBl III 1960, 429), so ist jedenfalls die rechtswirksame Einlegung eines Rechtsbehelfs (Einspruchs) vor der Bekanntgabe des Steuerbescheides, der angefochten werden soll, und damit vor Inlaufsetzung der Rechtsbehelfsfrist nicht möglich (§ 236 Abs. 1 AO). Der Zeitpunkt der Inlaufsetzung der Rechtsbehelfsfrist bestimmt sich nach Maßgabe der Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes.

Insoweit stimmt der Kläger in Ansehung seiner Revisionsbegründung offenbar mit dem FG und dem BFH überein. Entgegen seiner Auffassung ist die mündliche Bekanntgabe der Durchführung der Veranlagung, die sich im Streitfalle in der Mitteilung von der abschließenden Zeichnung der Eingabewertbogen (ohne Bekanntgabe der Höhe der Steuerschuld) erschöpfte, keine Bekanntgabe eines schriftlich zu erteilenden Bescheides im Sinne von § 236 Abs. 1 AO.

2. Soweit der Kläger sich - in der Person seines Prozeßbevollmächtigten - durch das Verhalten des FA gehindert sieht, die Gewährung von Nachsicht wegen Versäumung der Rechtsbehelfsfrist fristgerecht zu beantragen, kann der Senat ihm nicht zustimmen. Wenn auch der Prozeßbevollmächtigte des Klägers aus Anlaß einer Reihe generell gestellter Anträge, ihm die Frist zur Abgabe der Steuererklärungen 1970 für bestimmte Mandanten zu verlängern (Schreiben vom 30. Juni 1972), dem FA mitgeteilt hat, daß er sich "von Mitte Juli 1972 bis Mitte August 1972 einer Kur unterziehen" müsse, so war es doch seine Aufgabe, sicherzustellen, daß während der Zeit seiner Abwesenheit im Büro eingehende Post ihn erreichte oder aber durch einen Vertreter bearbeitet wurde. Die Ausführungen des erkennenden Senats im Beschluß vom 10. März 1971 I B 50/70 (BFHE 101, 466, BStBl II 1971, 401) gelten hier entsprechend; der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf sie Bezug.

 

Fundstellen

Haufe-Index 70888

BStBl II 1974, 433

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