Leitsatz (amtlich)

Das FG kann sich Feststellungen aus einem in das finanzgerichtliche Verfahren eingeführten - auch nicht rechtskräftigen - Strafurteil zu eigen machen, es sei denn, daß die Beteiligten gegen die strafgerichtlichen Feststellungen substantiierte Einwendungen vortragen und entsprechende Beweisanträge stellen, die das FG nicht nach den allgemeinen für die Beweiserhebung geltenden Grundsätzen unbeachtet lassen kann (teilweise Änderung der Rechtsprechung).

 

Normenkette

FGO § 76

 

Tatbestand

Mit Steuerhaftungsbescheid vom 7. Juni 1972 forderte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Hauptzollamt - HZA -) vom Kläger und Revisionskläger (Kläger) insgesamt 69 106,40 DM Abgaben an. Zur Begründung führte das HZA aus: Der Kläger habe vom 1. Juli bis 24. September 1971 insgesamt sechs Tankzugladungen Dieselkraftstoff vom Platzmeister A ohne Rechnung gekauft. Dieser Kraftstoff sei ohne Gestellung und ohne Entrichtung von Eingangsabgaben aus den Niederlanden eingeführt worden. Dadurch seien 542 DM Zoll, 60 180,80 DM Mineralölsteuer und 8 383,60 DM Einfuhrumsatzsteuer hinterzogen worden. Der Kläger habe gewußt, zumindest aber nach den Umständen wissen müssen, daß der Kraftstoff Gegenstand einer Steuerhinterziehung gewesen sei; zu dem vom Kläger gezahlten Preis von 0,35 bis 0,37 DM sei nämlich versteuerte Ware nicht zu kaufen gewesen. Dadurch habe der Kläger, der mit Gewinnabsicht gehandelt habe, eine Steuerhehlerei begangen.

Nach erfolglosem Einspruch erhob der Kläger Klage mit dem Ziel der Aufhebung des Haftungsbescheides. Nach Erhebung der Klage wurde er durch Urteil des Landgerichts X wegen Steuerhinterziehung und wegen fortgesetzter gewerbsmäßiger Steuerhehlerei verurteilt, darunter wegen fortgesetzter gewerbsmäßiger Steuerhehlerei, begangen durch den Einkauf der sechs Tankzugladungen, zu einer Einsatz-Freiheitsstrafe von zehn Monaten und zu einer Einsatz-Geldstrafe von 10 000 DM. Die gegen das Urteil eingelegte Revision verwarf der BGH als unbegründet. Der Platzmeister A wurde durch Urteil des Landgerichts Y wegen Steuerhehlerei in einem Fall verurteilt. Diese Verurteilung erfolgte wegen der Lieferung einer Tankzugladung mit 32 200 l Öl an den Kläger. Wegen der A zur Last gelegten Lieferungen der weiteren fünf Lastzüge mit Öl wurde er mangels Beweises freigesprochen. Gegen das Urteil legte sowohl die Staatsanwaltschaft als auch A Revision ein, über die im Zeitpunkt des Urteils des FG noch nicht entschieden war. Mit dem nach Einlegung der Revision am ... 1974 ergangenen Urteil verwarf der BGH die Revision des A und hob auf die Revision der Staatsanwaltschaft das Urteil des Langerichts Y mit den Feststellungen auf und verwies es zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurück.

Mit dem angefochtenen Urteil setzte das FG unter Abänderung des Steuerhaftungsbescheides vom 7. Juni 1972 in der Form der Einspruchsentscheidung die Abgaben auf 58 271,50 DM herab und wies die Klage im übrigen ab. Zur Begründung führte es u. a. aus:

Aufgrund der mündlichen Verhandlung stehe fest, daß der Kläger die sechs Tankzugladungen mit Öl von A gekauft und bezogen habe. Das habe er dem Gericht auf ausdrückliches Befragen erklärt; das ergebe sich darüber hinaus zur Gewißheit des Gerichts aus dem rechtskräftigen, in der mündlichen Verhandlung auszugsweise verlesenen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Strafurteil des Landgerichts X. Dagegen sei aus diesem Urteil und aus dem Urteil des Landgerichts Y nicht eindeutig zu entnehmen, zu welchem genauen Preis der Kläger das Öl von A gekauft habe. Im Urteil des Landgerichts X sei dazu ausgeführt, der Kläger habe an A 0,35 bis 0,37 DM pro Liter gezahlt, während im Urteil des Landgerichts Y festgestellt sei, es sei ein Literpreis von 0,34 oder 0,35 DM vereinbart und bezahlt worden. Das FG ziehe daraus die Folgerung, daß der Kläger für das von A bezogene Öl mindestens 0,34 und höchstens 0,37 DM pro Liter gezahlt habe. Dabei mache es sich die Feststellungen der beiden genannten Urteile zu eigen. Zur Übernahme dieser Feststellungen, die das FG für zutreffend erachte, sei es im finanzgerichtlichen Verfahren befugt. Es erachte ferner die Beweiswürdigung und die rechtliche Beurteilung in dem gegen den Kläger ergangenen rechtskräftigen Strafurteil des Landgerichts X für zutreffend und mache sie sich deswegen in dem Rahmen, der sich aus den nachstehenden Ausführungen ergebe, zu eigen (vgl. Urteil des BFH vom 13. Juni 1973 VII R 58/71, BFHE 109, 306, BStBl II 1973, 666). Ebenso habe das FG keine Bedenken, Feststellungen aus dem Urteil des Landgerichts Y zu übernehmen. Dieses Urteil sei zwar noch nicht rechtskräftig. Das stehe jedoch der Übernahme nicht entgegen (vgl. das zitierte BFH-Urteil VII R 58/71). Die Übernahme der Feststellungen werde ferner nicht dadurch ausgeschlossen, daß das Urteil nicht gegen den Kläger, sondern gegen dessen Lieferanten A ergangen sei. Der Kläger habe dieses Urteil dem erkennenden Gericht vorgelegt, und er habe sich auf das Urteil und auf dessen Inhalt berufen.

Mit seiner Revision rügt der Kläger Verletzung formellen und materiellen Rechts. Er führt u. a. aus:

Die Zulässigkeit der Übernahme strafgerichtlicher Feststellungen und Würdigungen, wie sie in dem vom FG zitierten BFH-Urteil VII R 58/71 ausgesprochen worden sei, betreffe zunächst einmal einen anderen Fall, der ganz entscheidend von dem hier in Rede stehenden Fall abweiche. Zum anderen sei auch die Zulässigkeit einer derartigen Übernahme strafgerichtlicher Feststellungen und Beweiswürdigungen eine in Literatur und Rechtsprechung nicht unumstrittene Frage. Es sei nur an die Rechtsprechung des BFH und auch die übereinstimmende Lehre erinnert, daß der Steuerpflichtige bei der Aufklärung von Sachverhalten, die ihn beträfen, bis zur Grenze des Zumutbaren mitzuwirken habe, während er im Strafverfahren eine völlig andere Stellung einnehme.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet.

Zu Unrecht rügt der Kläger, das FG habe einen Verfahrensfehler (§ 76 Abs. 1 FGO) dadurch begangen, daß es den Beweisanträgen des Klägers, die er in seinem Schriftsatz vom 5. August 1974 vor dem FG gestellt habe, nicht nachgegangen sei.

Nach § 76 Abs. 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Es ist dabei an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist diese Bestimmung dahin auszulegen, daß die Tatsacheninstanz gehalten ist, erforderlichenfalls unter Ausnutzung aller verfügbaren Beweismittel den Sachverhalt so vollständig wie möglich aufzuklären; sie darf daher auf die Erhebung eines von einem Beteiligten bezeichneten Beweismittels im Regelfall nur verzichten, wenn es die Richtigkeit der durch das Beweismittel zu beweisenden Tatsache zugunsten der betreffenden Partei unterstellt, das Beweismittel nicht erreichbar oder die Tatsache rechtsunerheblich ist (vgl. Urteile vom 13. August 1969 II 213/65, BFHE 98, 210, BStBl II 1970, 338, mit weiteren Nachweisen; vom 1. Dezember 1967 VI 379/65, BFHE 90, 485, BStBl II 1968, 145). Diese Grundsätze hat das FG nicht verletzt (wird ausgeführt).

Der Kläger rügt, das FG habe die strafrechtlichen Feststellungen und Würdigungen nicht übernehmen dürfen. Soweit der Kläger die Übernahme von Würdigungen der Strafgerichte rügt, ist dies schon deswegen unbegründet, weil die Vorentscheidung keine Anhaltspunkte dafür bietet, daß dies geschehen ist. Aus der Vorentscheidung ergibt sich vielmehr klar, daß - gerade wegen der abweichenden Würdigungen des tatsächlichen Geschehens in beiden Strafurteilen - das FG die Tatsachen selbst gewürdigt hat, wenn es auch dabei zum selben Ergebnis wie das Strafurteil des Langerichts X gelangt ist.

Unbegründet ist aber auch die Rüge, das FG habe sich nicht auf die tatsächlichen Feststellungen in den Strafverfahren stützen dürfen. Es ist zwar richtig, daß sich das FG wegen des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (vgl. § 81 Abs. 1 FGO) grundsätzlich die Kenntnis der Tatsachen, die es zur Grundlage seiner Entscheidung macht, selbst verschaffen muß. Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht ausnahmslos. So ist die Beweisaufnahme vor dem beauftragten Richter zulässig (§ 81 Abs. 2 FGO). Bei einem Wechsel der Richterbank nach Unterbrechnung der mündlichen Verhandlung brauchen vorher erhobene Beweise nicht nochmals erhoben zu werden (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 15. März 1977 VII R 122/73, BFHE 121, 392, 394 Abs. 1, BStBl II 1977, 431, 432 linke Spalte, 3. Absatz). Nach der Rechtsprechung des BGH ist es auch zulässig, daß das Gericht Niederschriften über eine Zeugenvernehmung in einem anderen Verfahren im Wege des Urkundenbeweises verwertet, wenn nicht eine Partei die Vernehmung dieses Zeugen ausdrücklich beantragt (vgl. Urteile vom 14. Juli 1952 IV ZR 25/52, BGHZ 7, 116, 122; vom 24. Oktober 1958 VI ZR 215/57, Lindenmaier-Möhring, Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, § 286 (E) ZPO Nr. 7 b). Es muß deswegen auch grundsätzlich als zulässig angesehen werden, daß Feststellungen in Strafverfahren im finanzgerichtlichen Verfahren verwertet werden.

Die Rechtsprechung des erkennenden Senats zur Frage, unter welchen Voraussetzungen diese Verwertung strafgerichtlicher Feststellungen zulässig ist, ist nicht einheitlich. Nach dem Urteil vom 22. Februar 1972 VII R 80/69 (BFHE 105, 220, BStBl II 1972, 544) kann das FG sich die Feststellungen des Strafurteils zu eigen machen, wenn die Tatsachen, auf die es ankommt, bereits im Strafverfahren rechtskräftig festgestellt worden sind, die Beteiligten diese tatsächlichen Feststellungen als zutreffend anerkennen und für das Gericht kein Grund besteht, gleichwohl eine weitere Aufklärung vorzunehmen. Nach dem vom FG zitierten Urteil des erkennenden Senats VII R 58/71 kann das FG sich die ihm zutreffend erscheinenden tatsächlichen Feststellungen, Beweiswürdigungen und rechtlichen Beurteilungen eines Strafurteils zu eigen machen, und zwar auch dann, wenn es noch nicht rechtskräftig ist. Der Senat hält die Aussage dieses letztgenannten Urteils - die in dieser Allgemeinheit nach dem zu entscheidenden Sachverhalt nicht gefordert war - nicht mehr in vollem Umfang aufrecht. Er hält zwar die mangelnde Rechtskraft des Strafurteils für kein Verwertungshindernis, ist aber der Auffassung, daß das FG auch die von ihm für zutreffend gehaltenen Feststellungen eines in das finanzgerichtliche Verfahren eingeführten Strafurteils dann nicht ohne eigene Beweisaufnahme übernehmen kann, wenn die Beteiligten gegen diese Feststellungen substantiierte Einwendungen vorbringen und entsprechende Beweisanträge stellen. In einem solchen Fall hat das FG die beantragten Beweise selbst zu erheben, wenn es diese Beweisaufnahme nicht nach den oben geschilderten, zu Beweisanträgen allgemein geltenden Grundsätzen ablehnen kann.

Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt sich, daß das FG sich zu Recht auf die Feststellungen im Strafverfahren gestützt hat. Der Kläger selbst hat sich in seinem Schreiben an das FG vom 5. August 1974 auf die beiden Strafurteile bezogen. Er hat auch, wie sich aus den Feststellungen des FG ergibt, in der mündlichen Verhandlung die in diesen Urteilen enthaltenen Feststellungen teilweise bestätigt. Soweit er sich gegen diese Feststellungen gewandt hat, hat er Beweisanträge gestellt, denen das FG, wie oben ausgeführt wurde, zu Recht nicht nachgegangen ist.

 

Fundstellen

Haufe-Index 72714

BStBl II 1978, 311

BFHE 1978, 305

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