Leitsatz (amtlich)

1. Nach Erlaß der Verwaltungsentscheidung in Kraft getretene Änderungen von Vorschriften des Verwaltungsverfahrens sind in besonderen Fällen auch von den Gerichten zu berücksichtigen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Verwaltungsentscheidung zwar nach altem Recht aus verfahrensrechtlichen Gründen aufzuheben wäre, die Entscheidung aber den für den Abschluß des schwebenden Verfahrens anwendbaren geänderten Verfahrensvorschriften entspricht.

2. Tritt eine derartige Gesetzesänderung nach Erlaß des finanzgerichtlichen Urteils ein, ist sie grundsätzlich auch vom Revisionsgericht zu beachten.

 

Normenkette

RAO § 131 Abs. 1 S. 3; AO 1977 § 163 Abs. 1 S. 3, § 348 Abs. 1 Nr. 2, § 349 Abs. 1 a.F.; EGAO Art. 97 § 1

 

Tatbestand

Der Rechtsstreit geht sachlich darum, ob der Beklagte und Revisionskläger (FA) den Antrag der Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger), Aufwendungen späterer Jahre gemäß § 131 Abs. 1 Satz 3 der Reichsabgabenordnung (RAO) als Werbungskosten bei den in den Streitjahren 1970 und 1971 zu versteuernden Einkünften aus Vermietung und Verpachtung zu berücksichtigen, zu Recht abgelehnt hat. Das FA hat die Ablehnung getrennt von den Verfahren der einheitlichen und gesonderten Feststellung der Einkünfte mit Schreiben vom 2. November 1972 ausgesprochen; über die gegen die Feststellungsbescheide eingelegten Einsprüche der Kläger ist noch nicht entschieden. Die OFD wies die gegen die ablehnende Entscheidung eingelegte Beschwerde am 3. Juli 1973 als unbegründet zurück.

Die Klage zum FG führte zur Aufhebung des Bescheides vom 2. November 1972 und der Beschwerdeentscheidung. Das FG nahm Bezug auf die Urteile des BFH vom 6. Mai 1971 IV R 59/69 (BFHE 102, 493, BStBl II 1971, 664) und vom 28. Juni 1972 I R 182/69 (BFHE 106, 427, BStBl II 1972, 819) und vertrat die Auffassung, über einen Erlaßantrag nach § 131 Abs. 1 Satz 3 RAO könne nur im Einspruchsverfahren gegen die Feststellungsbescheide entschieden werden (notwendig eingleisiges Verfahren).

Hiergegen richtet sich die Revision des FA mit dem Antrag, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen. Entgegen der Meinung des FG enthalte die gesonderte Entscheidung über den Erlaßantrag (zweigleisiges Verfahren) keinen formellen Ermessensverstoß.

Die Kläger haben keinen Antrag gestellt.

Der BdF ist dem Verfahren beigetreten und hat sich für die Möglichkeit einer gesonderten Entscheidung ausgesprochen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das FG zur sachlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Erlaßablehnung.

Der erkennende Senat läßt offen, ob er sich der mit dem BFH-Urteil IV R 59/69 übereinstimmenden Rechtsauffassung der Vorinstanz, daß über eine Billigkeitsmaßnahme nach § 131 Abs. 1 Satz 3 RAO ausschließlich im Veranlagungsverfahren (bzw. im Feststellungsverfahren) entschieden werden konnte und eine Anfechtung ausschließlich im Wege des Einspruchs gegen den Steuerbescheid (bzw. Feststellungsbescheid) möglich war, angesichts der vom BdF erhobenen Einwendungen anschließen würde. Selbst dann könnte die Vorentscheidung keinen Bestand haben. Die vom FG - im Anschluß an die Rechtsprechung des IV. Senats des BFH folgerichtig - ausgesprochene Aufhebung der Erlaßverfügung und der Beschwerdeentscheidung würde nicht zu einer verfahrensmäßigen Änderung führen, weil der Gesetzgeber das Erlaßverfahren ab 1. Januar 1977 im Sinne der Rechtsauffassung der Finanzverwaltung (Möglichkeit der Entscheidung durch gesonderte Verfügung) geregelt hat (§ 163 Abs. 1 Satz 3 der Abgabenordnung vom 16. März 1976 - AO 1977 -, BGBl I 1976, 613, BStBl I 1976, 157). Die für den Erlaß zuständige Behörde hätte das schwebende Verfahren nach den Vorschriften der AO 1977 zu Ende zu führen (§ 415 Abs. 1 AO 1977, Art. 97 § 1 des Einführungsgesetzes zur AO 1977 vom 14. Dezember 1976, BGBl I 1976, 3341, BStBl I 1976, 694 - EGAO -). Die Entscheidung über den Erlaßantrag wäre selbständig mit der Beschwerde anfechtbar (§§ 349 Abs. 1 i. V. m. 348 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977). Für das Verfahren der einheitlichen und gesonderten Feststellung der Einkünfte (§§ 179 Abs. 1 i. V. m. 180 Abs. 1 Nr. 2 a AO 1977) ergeben sich insoweit keine Besonderheiten.

Derartige weder den materiellen Steueranspruch noch die sachliche Ermessensentscheidung betreffenden Gesetzesänderungen auf dem Gebiet des Verwaltungsverfahrensrechts, welche die Verwaltung im Falle der Aufhebung der nach altem Recht ergangenen Verwaltungsentscheidung bei der Fortführung des begonnenen Verfahrens zu beachten hätte, sind auch dann in einem anhängigen Gerichtsverfahren zu berücksichtigen, wenn die Gesetzesänderung erst nach Erlaß der letzten Verwaltungsentscheidung oder des finanzgerichtlichen Urteils ohne Rückwirkung in Kraft getreten ist. Daß die sofortige Anwendbarkeit neuer Verwaltungsverfahrensvorschriften durch die Gerichte im Zweifel dem Willen des Gesetzgebers gerecht wird, läßt sich zwar nicht unmittelbar aus Art. 97 § 1 EGAO entnehmen; diese Vorschrift bezieht sich nur auf die Abwicklung begonnener Verwaltungsverfahren. Die Berücksichtigung derartiger Änderungen in einem anhängigen Gerichtsverfahren entspricht jedoch allein dem auch in Art. 97 § 1 EGAO zum Ausdruck kommenden allgemeinen Grundsatz, daß neues Verfahrensrecht auch für schwebende Verfahren gilt, soweit nichts anderes vorgeschrieben ist (vgl. die amtliche Begründung zu Art. 97 § 1 EGAO - Bundestags-Drucksache 7/261 zu Art. 79 zu § 1 - und Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Mai 1960 2 BvL 4/59, BVerfGE 11, 139 [146]), sowie dem Grundsatz der Prozeßökonomie. Es stimmt im übrigen mit der neueren Tendenz der Rechtsprechung überein, daß es bei der Frage, ob ein Urteil auf der Verletzung eines Gesetzes beruht, nicht darauf ankommt, ob das Gericht in der Handhabung des Gesetzes gefehlt hat, sondern darauf, ob das Urteil im Zeitpunkt der Entscheidung durch das Rechtsmittelgericht objektiv mit dem Gesetz in Einklang steht (vgl. etwa Urteil des Bundesgerichtshofs vom 26. Februar 1953 III ZR 214/50, BGHZ 9, 101; BFH-Urteil vom 6. November 1953 III 48/52 S, BFHE 58, 190, BStBl III 1953, 364; Beschluß des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 1. April 1971 1 Z 47/70, Neue Juristische Wochenschrift 1971 S. 1464).

 

Fundstellen

Haufe-Index 72326

BStBl II 1977, 516

BFHE 1977, 379

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