Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertrauensschutz bei der Änderung von Steuerfestsetzungen: Ausweisung eines zu hohen USt-Betrages durch den Aussteller einer Gutschrift; auf einer Steueranmeldung beruhende Steuerfestsetzung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Einschränkung der Änderungsbefugnis gemäß § 176 Abs.1 Nr.2 AO 1977 ist auch bei der Änderung einer Steuerfestsetzung zu beachten, die auf einer Steueranmeldung beruht (Anschluß an BFH-Urteil vom 28.September 1987 VIII R 154/86, BFHE 151, 107, BStBl II 1988, 40).

2. Die Rechtsunwirksamkeit des § 5 der 1.UStDV darf bei der Änderung einer Steuerfestsetzung, die auf dieser Norm beruht, gemäß § 176 Abs.1 Nr.2 AO 1977 nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden.

3. Hatte der Aussteller einer Gutschrift einen höheren Umsatzsteuerbetrag ausgewiesen, als nach dem UStG für den Umsatz geschuldet wurde, so gestattete § 15 Abs.1 Nr.1 UStG 1967 i.V.m. dem (rechtsunwirksamen) § 5 der 1.UStDV dem Aussteller der Gutschrift den Abzug auch des zu hoch ausgewiesenen Vorsteuerbetrages. Ob der leistende Unternehmer als Empfänger der Gutschrift den zu hoch ausgewiesenen Steuerbetrag gemäß § 14 Abs.2 UStG 1967 schuldete, kann unentschieden bleiben.

 

Orientierungssatz

1. Auf eine ausdrückliche Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift (hier: § 5 der 1. UStDV) kommt es im Falle des § 176 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 nicht an (vgl. BFH-Urteil vom 10.11.1988 IV R 63/86, Literatur).

2. Parallelentscheidung: BFH, 2.11.1989, V R 57/84, NV.

 

Normenkette

AO 1977 §§ 164, 168, 176 Abs. 1 Nr. 2; UStG 1967 § 15 Abs. 1 Nr. 1; UStG 1973 § 15 Abs. 1 Nr. 1; UStDV § 5; UStG 1967 § 14 Abs. 2

 

Verfahrensgang

Niedersächsisches FG (Entscheidung vom 12.01.1984; Aktenzeichen V 383/83)

 

Tatbestand

I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) betrieb ein Geflügelverwertungsunternehmen. Im Jahre 1975 bezog sie von der "Interessengemeinschaft Hähnchenmastbetrieb" Masthähnchen. Über diese Lieferungen rechnete die Klägerin, die allein im Besitz der Abrechnungsunterlagen war, mit Gutschriften ab, in denen die Umsatzsteuer in Höhe von 9 v.H. gesondert ausgewiesen war. Die Klägerin ging davon aus, der Hähnchenmastbetrieb sei ein landwirtschaftlicher Betrieb.

In ihrer am 14.November 1977 beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) eingegangenen Umsatzsteuererklärung für 1975 berücksichtigte die Klägerin die in den Gutschriften gesondert ausgewiesene Steuer als abziehbare Vorsteuerbeträge. Nachdem festgestellt worden war, daß der Hähnchenmastbetrieb einen Gewerbebetrieb darstellte, kürzte das FA mit dem auf § 164 Abs.2 der Abgabenordnung (AO 1977) gestützten Änderungsbescheid vom 30.August 1982 die abziehbaren Vorsteuern der Klägerin um den Betrag, um den die in den Gutschriften ausgewiesene Steuer die gesetzlich geschuldeten Steuerbeträge in Höhe von 5,5 v.H. überstieg.

Der Einspruch der Klägerin blieb im wesentlichen erfolglos. Das FA führte in der Einspruchsentscheidung aus, der Lieferer (Hähnchenmastbetrieb) habe dem Betriebsprüfer mitgeteilt, er wolle die in den Gutschriften zu hoch ausgewiesenen Steuerbeträge nicht an das FA abführen. In sinngemäßer Anwendung des an sich unwirksamen § 5 der Ersten Verordnung zur Durchführung des Umsatzsteuergesetzes vom 26.Juli 1967 (1.UStDV) entfalle mit dem Widerspruch des Lieferers der Vorsteuerabzug der Klägerin, weil die Gutschriften die Wirkung von Rechnungen dadurch verloren hätten. Aufgrund einer die Klägerin begünstigenden Vereinfachungsregelung der Finanzverwaltung könne jedoch in Höhe der gesetzlich geschuldeten Steuerbeträge der Vorsteuerabzug der Klägerin anerkannt werden.

Die hiergegen gerichtete Klage hat das Finanzgericht (FG) abgewiesen (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1984, 525, Umsatzsteuer-Rundschau --UR-- 1984, 142).

Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung von § 15 des Umsatzsteuergesetzes (UStG), § 176 AO 1977, § 76 der Finanzgerichtsordnung (FGO) und Art.3 des Grundgesetzes (GG). Sie beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Umsatzsteuer auf ./. 503 437,53 DM festzusetzen.

Das FA beantragt unter Bezugnahme auf das angefochtene Urteil, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO).

1. Gemäß § 15 Abs.1 Nr.1 UStG 1967 kann der Unternehmer die ihm von anderen Unternehmern gesondert in Rechnung gestellte Steuer für Lieferungen oder sonstige Leistungen, die für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, als Vorsteuerbeträge abziehen. § 5 Abs.1 Satz 1 der 1.UStDV bestimmte hierzu, daß Gutschriften, die im Geschäftsverkehr an die Stelle von Rechnungen treten, unter den Voraussetzungen des Abs.2 dieser Vorschrift als Rechnungen des Unternehmers gelten, der steuerpflichtige Lieferungen oder sonstige Leistungen an den Aussteller der Gutschrift ausführt. Gemäß Abs.3 des § 5 der 1.UStDV verliert die Gutschrift die Wirkung einer Rechnung nach § 14 Abs.1 UStG 1967, soweit der Empfänger der Gutschrift dem in ihr enthaltenen Steuerbetrag widerspricht.

a) Die Regelung des § 5 der 1.UStDV ist gemäß § 176 Abs.1 Nr.2 AO 1977 bei Prüfung der Rechtmäßigkeit des Änderungsbescheids vom 30.August 1982 zu beachten. Nach dieser Vorschrift darf bei der Änderung eines Steuerbescheids nicht zuungunsten eines Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, daß ein oberster Gerichtshof des Bundes eine Norm, auf der die bisherige Steuerfestsetzung beruht, nicht anwendet, weil er sie für verfassungswidrig hält. Die Einschränkung der Änderungsbefugnis gemäß § 176 Abs.1 Nr.2 AO 1977 ist auch bei der Änderung von Bescheiden zu beachten, die unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO 1977) stehen. Nichts anderes gilt für eine Steueranmeldung, die gemäß § 168 AO 1977 einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleichsteht. Zur Begründung weist der Senat auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 28.September 1987 VIII R 154/86 (BFHE 151, 107, BStBl II 1988, 40) hin. Danach enthält § 176 AO 1977 einen allgemeinen Rechtsgrundsatz, der bei allen Änderungen von Steuerbescheiden zu beachten ist.

Die am 14.November 1977 beim FA eingegangene Umsatzsteuererklärung für 1975 (Steueranmeldung gemäß § 18 Abs.3 Satz 1 UStG 1967) stand gemäß § 168 AO 1977 einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung gleich. Diese Steuerfestsetzung beruhte --soweit die Klägerin den Abzug der in den Gutschriften gesondert ausgewiesenen Steuerbeträge begehrte-- auf § 5 der 1.UStDV. Der BFH als oberster Gerichtshof des Bundes hat mit Urteil vom 17.Mai 1979 V R 112/74 (BFHE 128, 115, BStBl II 1979, 657) diese Vorschrift für rechtsunwirksam erachtet. Er hat ausgeführt, der Verordnungsgeber sei durch § 14 Abs.4 und § 15 Abs.8 UStG 1967 nicht ermächtigt gewesen, die in § 5 der 1.UStDV enthaltenen, von § 14 Abs.1 und § 15 Abs.1 Nr.1 UStG 1967 abweichenden Regelungen zu treffen. Der BFH hat unter Abschn.1 der Entscheidungsgründe klargestellt, daß die Frage der Ermächtigung des Verordnungsgebers anhand von Art.80 GG zu beurteilen ist. Grundlage der Entscheidung war demnach nicht allein die Erkenntnis, daß die Verordnung als nachrangiges Recht dem --verfassungsgemäßen-- UStG als höherrangigem Recht widerspricht (so aber das Niedersächsische FG im Beschluß vom 13.Mai 1981 V 336/80 V, EFG 1982, 160). Die Entscheidung des BFH beruht vielmehr darauf, daß gemäß Art.80 GG (von den im GG selbst gemäß Art.119, 127, 132 Abs.4 enthaltenen Ausnahmen abgesehen) jede Rechtsverordnung einer einfach-gesetzlichen Ermächtigung bedarf. Der BFH hat deshalb mit der Aussage, § 5 der 1.UStDV sei wegen fehlender Ermächtigungsgrundlage rechtsunwirksam, diese Vorschrift wegen Verstoßes gegen Art.80 GG für verfassungswidrig erachtet. Auf eine ausdrückliche Feststellung der Verfassungswidrigkeit kommt es im Falle des § 176 Abs.1 Nr.2 AO 1977 nicht an (im Ergebnis ebenso Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 54.Lieferung, § 176 AO 1977 Tz.4; vgl. auch BFH-Urteil vom 10.November 1988 IV R 63/86, BFHE 155, 109, BStBl II 1989, 198, unter 3.b) zu § 176 Abs.2 AO 1977).

b) Die Frage nach der zivilrechtlichen Abrechnungslast (siehe hierzu BFH-Urteil vom 4.März 1982 V R 107/79, BFHE 135, 118, BStBl II 1982, 309) der Klägerin als Voraussetzung für die Berechtigung zur Abrechnung durch Gutschriften (mit gesondertem Steuerausweis) braucht der Senat nicht zu erörtern (zur Kritik an der Rechtsprechung siehe Padberg in Festgabe für G. Felix, 1989, S.239/249 ff.). Denn jedenfalls hat das FG festgestellt, die Klägerin habe zu Recht mit Gutschriften abrechnen können. Dies ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

c) Entgegen der Ansicht des FG beschränkt § 15 Abs.1 Nr.1 UStG in Verbindung mit dem im Streitfall zu beachtenden § 5 der 1.UStDV den Vorsteuerabzug auf der Grundlage von Gutschriften nicht auf den Abzug der gesetzlich geschuldeten Steuer. Hat der Aussteller einer Gutschrift einen höheren Betrag ausgewiesen, als nach dem Gesetz für den Umsatz geschuldet wird (vgl. § 14 Abs.2 Satz 1 UStG 1967), so kann der Aussteller grundsätzlich den gesamten Betrag als Vorsteuer abziehen. Diese Auslegung des § 15 Abs.1 Nr.1 UStG i.V.m. § 5 der 1.UStDV ergibt sich zunächst auf der Grundlage des Wortlauts dieser Vorschriften. § 15 Abs.1 Nr.1 UStG, der im Rechnungsausstellungsverfahren auch den Abzug zu hoch ausgewiesener Steuer zuläßt, enthält i.V.m. § 5 der 1.UStDV keine diesbezügliche ausdrückliche Einschränkung für das Gutschriftenverfahren. § 5 der 1.UStDV schließt den Vorsteuerabzug aus, wenn die Leistungen nicht steuerbar oder steuerbefreit sind (Abs.1 Satz 1) oder wenn der leistende Unternehmer nicht zum gesonderten Ausweis der Steuer in einer Rechnung nach § 14 Abs.1 UStG 1967 berechtigt ist (Abs.2 Nr.1; Kleinunternehmer) oder wenn die Gutschrift nicht die in § 14 Abs.1 Satz 2 UStG 1967 geforderten Angaben enthält (Abs.2 Nr.3). Daraus ergibt sich im Umkehrschluß, daß ein zu hoher Steuerausweis in einer Gutschrift den Vorsteuerabzug nicht hindert.

Diesem Auslegungsergebnis stellt das FG systematische Bedenken entgegen. Es ist der Auffassung, das Auslegungsergebnis widerspreche, da der Empfänger der Gutschrift die zu hoch ausgewiesene Steuer nicht gemäß § 14 Abs.2 UStG 1967 schulde, dem Grundsatz vom Gleichgewicht zwischen abziehbaren Vorsteuerbeträgen und geschuldeter Umsatzsteuer. Der Senat kann offenlassen, ob der Empfänger einer Gutschrift die darin vom Aussteller zu hoch ausgewiesene Steuer gemäß § 14 Abs.2 UStG 1967 schuldet oder nicht. Denn die Bedenken des FG greifen bereits deshalb nicht durch, weil der vom FG herangezogene Grundsatz vom Gleichgewicht zwischen abziehbaren Vorsteuerbeträgen und geschuldeter Umsatzsteuer im Gesetz nicht lückenlos verwirklicht ist. Die materiell-rechtliche Regelung der Steuerschuld des leistenden Unternehmers und der Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers sind zwar von dem systematischen Ausgangspunkt her erfolgt, in der Unternehmerkette sollten sich Steuer und Vorsteuer betragsmäßig gegeneinander aufheben. Im Gesetz sind die entsprechenden Regelungen aber nicht materiell im Sinne einer gegenseitigen Abhängigkeit miteinander verknüpft worden. Steuerschuld des Leistenden und Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers sind jeweils getrennt in deren Steuerschuldverhältnissen nach eigenen Grundsätzen zu prüfen (BFH-Beschluß vom 26.Februar 1987 V S 4/86, BFH/NV 1987, 604, 607).

2. Da das Urteil des FG mit den vorstehenden Rechtsgrundsätzen nicht im Einklang steht, war es aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG hat offengelassen, ob der Lieferer (Hähnchenmastbetrieb) den Gutschriften widersprochen hat (§ 5 Abs.3 der 1.UStDV). Die Sache geht zurück, damit das FG die entsprechenden Feststellungen nachholen kann.

 

Fundstellen

Haufe-Index 62814

BFH/NV 1990, 17

BStBl II 1990, 253

BFHE 159, 266

BFHE 1990, 266

BB 1990, 542

BB 1990, 542-543 (LT)

DB 1990, 669-670 (ST)

DStR 1990, 281 (KT)

HFR 1990, 322 (LT)

StE 1990, 96 (K)

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