Entscheidungsstichwort (Thema)

Zu Verfahrensfehlern i. S. des § 118 Abs. 3 FGO

 

Leitsatz (NV)

1. Ein Verfahrensfehler i. S. des § 118 Abs. 3 FGO liegt nicht bei jeder rechtsirrigen Beurteilung einer verfahrensrechtlichen Frage durch das FG vor.

2. Der Rüge, das FG sei von 1981 - 1985 untätig geblieben, ist kein Verfahrensfehler i. S. des § 118 Abs. 3 FGO zu entnehmen.

3. Wird gegen einen Folgebescheid Klage mit der Begründung erhoben, der Grundlagenbescheid, dessen festgestellte Besteuerungsgrundlagen in den Folgebescheid übernommen wurden, sei dem Kläger nicht bekannt gegeben worden, so hat das FG im Klageverfahren gegen den Folgebescheid zu prüfen, ob der Grundlagenbescheid wirksam erlassen und ob er auch gegenüber dem Kläger bekannt gegeben wurde.

 

Normenkette

FGO § 118 Abs. 3, § 42; AO 1977 § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 180 Abs. 1 Nr. 2a, § 182 Abs. 1

 

Verfahrensgang

FG Rheinland-Pfalz

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurde am 5. Dezember 1974 Kommanditist einer KG. Für das Streitjahr 1974 erklärte der Kläger aus dieser Beteiligung einen Verlust in Höhe von 45 000 DM. Diesen Betrag legte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) dem Einkommensteuerbescheid 1974 vom 5. Juni 1975 zugrunde. Der Bescheid erging vorläufig gemäß § 100 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung (AO).

Unter dem Datum des 26. Juli 1976 teilte das für die KG zuständige Betriebs-FA dem FA mit, für den Kläger sei durch einen gemäß § 100 Abs. 2 AO vorläufigen Feststellungsbescheid 1974 vom 29. Juni 1976 aus seiner Beteiligung an der KG ein Verlustanteil in Höhe von 48 479 DM festgestellt worden. Daraufhin erließ das FA am 6. September 1976 einen entsprechend geänderten Einkommensteuerbescheid 1974. Dieser wurde gleichzeitig gemäß § 225 AO für endgültig erklärt.

Später wurde bei der KG eine Außenprüfung durchgeführt. Diese führte zu dem gemäß § 164 Abs. 2 und 3 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderten Feststellungsbescheid 1974 vom 19. November 1979, in dem für den Kläger nur noch ein Verlustanteil in Höhe von 34 466 DM festgestellt wurde. Aufgrund der entsprechenden Mitteilung änderte das FA den Einkommensteuerbescheid 1974 am 20. Juni 1980 erneut und berücksichtigte nur noch einen Verlust in der festgestellten Höhe.

Mit dem Einspruch und der Klage gegen den geänderten Einkommensteuerbescheid 1974 vom 20. Juni 1980 wendete der Kläger u. a. ein, ihm sei der Grundlagenbescheid vom 19. November 1979 nicht bekanntgegeben worden. Beide Rechtsbehelfe hatten keinen Erfolg.

Mit seiner vom Bundesfinanzhof (BFH) zugelassenen Revision rügt der Kläger Verfahrensmängel und Grundrechtsverletzungen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zwecks anderweitiger Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

A. Die vom Kläger erhobenen Verfahrensrügen greifen nicht durch.

1. Ein Verfahrensfehler i. S. des § 118 Abs. 3 FGO liegt nicht bei jeder rechtsirrigen Beurteilung einer verfahrensrechtlichen Frage durch das FG vor. Vielmehr ist zu unterscheiden zwischen dem Irrtum des FG, der das Verfahren bei der Urteilsfindung beeinflußt hat (error in procedendo) und der von § 118 Abs. 3 FGO nicht erfaßten falschen Beurteilung von Verfahrensvorschriften, die den Inhalt der angefochtenen Entscheidung selbst bildet (error in iudicando). In den Bereich eines ,,error in procedendo" fallen nur die Fehler, die das FG in der Handhabung seines Verfahrensrechts begeht und die zur Folge haben, daß es an einer ordnungsgemäßen Grundlage für die Urteilsfällung fehlt, mithin infolge falscher formaler Behandlung der materielle Inhalt der Entscheidung beeinflußt sein kann (vgl. BFH-Beschluß vom 27. Februar 1986 IV B 6/85, BFHE 146, 204, BStBl II 1986, 492, m. w. N.).

Demgegenüber macht der Kläger mit der Revisionsbegründung lediglich geltend, das FG habe über die von dem Feststellungsbescheid vom 19. November 1979 ausgehende Bindungswirkung (§ 182 Abs. 1 AO 1977) geirrt. Dieses Vorbringen betrifft nicht das Verfahren bei der Urteilsfindung, sondern den Inhalt der getroffenen Entscheidung. Der Kläger hat deshalb in Wirklichkeit keinen Verfahrensfehler, sondern einen materiell-rechtlichen Fehler gerügt. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, daß das FG - wäre ihm der gerügte materiell-rechtliche Fehler nicht unterlaufen - den Sachverhalt hätte weiter aufklären müssen. Die unterlassene Sachverhaltsaufklärung ist in diesem Fall nur die Folge des error in iudicando, jedoch kein Verfahrensmangel, der selbständig geltend gemacht werden kann.

Enthält aber die Revisionsbegründung tatsächlich nicht die Rüge eines error in procedendo, so kann der Senat auch nicht über einen solchen entscheiden.

2. Soweit der Kläger ,,die Untätigkeit des FG von 1981-1985" rügt, ist seinem Vorbringen ebenfalls keine Rüge eines Verfahrensmangels zu entnehmen. Das Vorbringen läßt nicht erkennen, wieso die lange Verfahrensdauer den materiellen Inhalt der Entscheidung des FG beeinflußt haben kann. Zwar mag sich während der langen Verfahrensdauer die Besetzung der Richterbank verändert haben. Jedoch hat der Kläger mit der Revisionsbegründung nicht dargelegt, weshalb die veränderte Besetzung der Richterbank nicht mehr dem Grundrecht des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) entsprochen haben soll. Es kommt hinzu, daß der Kläger vor dem FG ausdrücklich erklärte, dessen Richter nicht ablehnen zu wollen. Hierin liegt der Verzicht auf eine entsprechende Rüge (§ 155 FGO i. V. m. § 295 der Zivilprozeßordnung - ZPO -).

B. 1. Die Vorentscheidung ist revisionsrechtlich insoweit nicht zu beanstanden, als das FG zutreffend die formellen Änderungsvoraussetzungen für den angefochtenen Einkommensteuerbescheid vom 20. Juni 1980 dem § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 entnommen hat. Die Vorschrift ist gemäß Art. 97 § 9 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) anwendbar, weil der angefochtene Bescheid nach dem 31. Dezember 1976 ergangen ist. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 findet auch auf endgültige Bescheide i. S. des § 225 AO Anwendung. Dies ergibt sich aus § 172 Abs. 1 Satz 1 AO 1977. Danach darf ein Steuerbescheid, der nicht vorläufig oder unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen ist, nur in den gesetzlich zugelassenen Fällen geändert oder aufgehoben werden. Die gesetzlich zugelassenen Fälle sind u. a. in den §§ 173 ff. AO 1977 geregelt. Zu ihnen gehört auch § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977.

2. Das FG hat auch zutreffend die Nichtanwendung des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 aus Gründen eines zugunsten des Klägers wirkenden Vertrauenstatbestandes verneint. Nach den den erkennenden Senat insoweit bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) wurde der Verlustanteil des Klägers durch einen Feststellungsbescheid festgestellt. Der ursprüngliche Feststellungsbescheid erging am 29. Juni 1976 vorläufig gemäß § 100 Abs. 2 AO. Damit wußte der Kläger bzw. hätte er wissen müssen, daß dem FA bezüglich der endgültigen Beurteilung des Verlustanteils dem Grunde und der Höhe nach keine Entscheidungskompetenz zustand. Diese stand allein dem Betriebs-FA der KG zu. Durch die Vorläufigkeit des Feststellungsbescheides war gleichzeitig zum Ausdruck gebracht, daß der Kläger mit einer Überprüfung des Verlustanteils rechnen mußte. Wenn er dennoch von der dauerhaften Anerkennung des angesetzten Verlustanteils ausgegangen sein sollte, so verdient diese Vorstellung keinen Vertrauensschutz, weil sie ausschließlich auf einem Rechtsirrtum des Klägers beruhte.

3. Das FG hat jedoch eine Tatbestandsvoraussetzung des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 falsch beurteilt und deshalb die Prüfung unterlassen, ob der am 19. November 1979 geänderte Feststellungsbescheid wirksam war und ob er dem Kläger bekanntgegeben wurde.

a) Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 ist ein Steuerbescheid (hier: der Einkommensteuerbescheid 1974 vom 6. September 1976) nur dann zu ändern, soweit ein Grundlagenbescheid (hier: Feststellungsbescheid 1974 vom 29. Juni 1976), dem Bindungswirkung für den Steuerbescheid zukommt, geändert wird. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall insoweit erfüllt, als über den Gewinn oder Verlust 1974 der KG und den sich daraus ergebenden Gewinn- und Verlustanteil des Klägers durch Feststellungsbescheid des Betriebs-FA zu entscheiden war (§ 215 Abs. 1 AO, § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977). Dem Feststellungsbescheid 1974 kommt seinem Inhalt nach Bindungswirkung für den Einkommensteuerbescheid 1974 gegenüber dem Kläger zu (§ 218 Abs. 2 AO, § 182 Abs. 1 AO 1977). Die Bindungswirkung bezieht sich allerdings nur auf den Inhalt des Feststellungsbescheids. Ob dagegen überhaupt der Feststellungsbescheid rechtswirksam geändert wurde und ob die Änderung tatsächlich auch gegenüber dem Kläger wirkt, ist in dem den Folgebescheid betreffenden Verfahren zu prüfen (vgl. BFH-Beschluß vom 25. März 1986 III B 6/85, BFHE 146, 225, BStBl II 1986, 477), weil diese Frage zu den Änderungsvoraussetzungen des Folgebescheides gehört.

b) Das FG ist von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen. Es hat aufgrund der anderen Rechtsauffassung die Prüfung unterlassen, ob der Feststellungsbescheid 1974 vom 19. November 1979 rechtswirksam ergangen ist und ob er tatsächlich auch gegenüber dem Kläger wirkt (§ 124 Abs. 1 Satz 1 AO 1977). Wegen der insoweit fehlenden tatsächlichen Feststellungen kann auch der erkennende Senat nicht in der Sache selbst entscheiden. Vielmehr war die Vorentscheidung aufzuheben. Es ist Sache des FG, die fehlenden tatsächlichen Feststellungen nachzuholen. Deshalb war die Sache an das FG zurückzuverweisen. Das FG wird im Rahmen seines Ermessens auch darüber zu befinden haben, ob es das Klageverfahren gemäß § 74 FGO bis zur Bestandskraft des Feststellungsbescheides 1974 aussetzt oder ob es über die Klage in der Sache selbst entscheidet.

 

Fundstellen

Haufe-Index 415302

BFH/NV 1988, 176

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