Entscheidungsstichwort (Thema)

Keine Aussetzung des Verfahrens wegen Musterprozeß

 

Leitsatz (NV)

1. Die Anhängigkeit eines sog. Musterprozesses beim BFH rechtfertigt keine Aussetzung des Verfahrens.

2. Ist das Verfahren aber aus einem anderen Grund zwingend auszusetzen, so kann die gegen den Aussetzungsbeschluß erhobene Beschwerde keinen Erfolg haben.

 

Normenkette

FGO § 74

 

Verfahrensgang

Niedersächsisches FG

 

Tatbestand

Der Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) war im Streitjahr 1989 an einer Partenreederei beteiligt. Im Feststellungsbescheid für die Reederei 1989, gegen den Klage anhängig ist, wurden keine nach § 34 c Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) begünstigten Einkünfte festgestellt. Der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt -- FA --) versagte daher im Einkommensteuerbescheid 1989 (Streitgegenstand) die vom Kläger beantragte Tarifermäßigung.

Das Finanzgericht (FG) hat das Verfahren in Sachen Einkommensteuer 1989 ausgesetzt und dies damit begründet, daß das Ergebnis der Revision Az. I R 108/94 abzuwarten sei. Der Kläger ist nicht Beteiligter des genannten Revisionsverfahrens.

Gegen die Aussetzung des Verfahrens hat das FA Beschwerde eingelegt mit der Begründung, daß das beim Bundesfinanzhof (BFH) anhängige Verfahren nicht dieselbe Rechtsfrage betreffe. Eine Aussetzung sei nach § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) allenfalls bis zum Abschluß des Feststellungsverfahrens betreffend die Partenreederei möglich.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde des FA ist mit der Maßgabe unbegründet, daß das Verfahren wegen Vorgreiflichkeit des Feststellungsverfahrens nach § 74 FGO auszusetzen ist.

Nach § 74 FGO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, daß die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei.

1. Nach herrschender Meinung setzt eine Aussetzung des Verfahrens danach voraus, daß das andere Verfahren zumindest in bestimmter Weise rechtlich vorgreiflich für das anhängige Verfahren ist. Das ist nicht der Fall, wenn in einem beim BFH anhängigen Revisionsverfahren nur dieselbe Rechtsfrage streitig ist (BFH-Beschlüsse vom 21. August 1986 VI B 91/85, BFH/NV 1987, 43; vom 7. Februar 1992 III B 24--25/91, BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408 unter Nr. 2; vom 8. Mai 1992 III B 123/92, BFH/NV 1993, 244; vom 30. November 1992 X B 18/92, BFH/NV 1993, 732; vom 18. Januar 1993 X B 14/92, BFH/NV 1993, 667; BFH-Urteil vom 8. Juni 1990 III R 41/90, BFHE 161, 1, BStBl II 1990, 944; vgl. hierzu auch BFH-Beschluß vom 25. Januar 1994 VIII B 103/93, BFH/NV 1994, 726; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 74 Rdnr. 16). Eine mit § 31 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vergleichbare rechtliche Bindung tritt durch Musterprozesse beim BFH nicht ein (vgl. hierzu auch BFH- Urteil vom 16. Oktober 1991 I R 95/90, I R 96/90, BFH/NV 1992, 326).

2. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH muß das FG aber regelmäßig das einen Folgebescheid betreffende Verfahren solange aussetzen, bis über einen Grundlagenbescheid abschließend entschieden worden ist (vgl. z. B. BFH-Urteile vom 9. November 1988 I R 191/84, BFHE 155, 454, BStBl II 1989, 343, m. w. N.; vom 24. April 1979 VIII R 57/76, BFHE 128, 136, BStBl II 1979, 678; vom 8. März 1994 IX R 37/90, BFH/NV 1994, 868). Da zum Gegenstand des Feststellungsbescheides für die Partenreederei auch die Feststellung gehört, ob und ggf. in welcher Höhe nach § 34 c Abs. 4 EStG tarifbegünstigte Einkünfte vorliegen (vgl. BFH-Urteile vom 21. Februar 1991 IV R 93/89, BFHE 163, 554, BStBl II 1991, 455; vom 18. Mai 1994 I B 209/93, BFHE 174, 530, BStBl II 1994, 794; bestätigt durch BFH-Urteile vom 8. Februar 1995 I R 17/94, BFHE 177, 79 und I R 108/94, BFH/NV 1995, 874), ist diese Feststellung für das streitgegenständliche Einkommensteuerverfahren des Klägers nach § 182 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) rechtlich vorgreiflich i. S. des § 74 FGO.

Das FG mußte aus diesem Grunde das Verfahren in Sachen Einkommensteuer aussetzen. Zwar räumt § 74 FGO dem FG ein Entschließungsermessen ein, das nicht durch Ermessenserwägungen des erkennenden Senats ersetzt werden kann. Hat sich das FG aber entschlossen, über Grundlagen- und Folgebescheid nicht zeitgleich zu entscheiden, so besteht im Regelfall wegen einer Ermessensreduzierung auf Null die Pflicht, das Verfahren betreffend den Folgebescheid auszusetzen (vgl. z. B. BFH in BFH/NV 1994, 868; BFH in BFHE 155, 454, BStBl II 1989, 343; BFH-Beschluß vom 20. Februar 1991 II B 160/89, BFHE 163, 309, BStBl II 1991, 368). Das Begehren des Klägers, tarifbegünstigte Einkünfte i. S. des § 34 c Abs. 4 EStG anzunehmen, betrifft inhaltlich ausschließlich den Feststellungsbescheid. Daß der Kläger meint, sein Begehren im Verfahren betreffend Einkommensteuer durchsetzen zu können, ändert daran nichts.

Über den Antrag des Klägers, das Verfahren auch bis zur Entscheidung des Senats in der Streitsache I R 17/94 auszusetzen, kann der Senat nicht entscheiden. Er richtet sich an das FG. Der Schriftsatz des Klägers vom 12. September 1994 ist daher auch nicht als Anschlußbeschwerde zu verstehen.

Im übrigen hat der Senat, wie oben dargelegt, auch dieses Verfahren bereits abgeschlossen.

Eine Kostenentscheidung ergeht in diesem Verfahren nicht (vgl. BFH-Beschlüsse vom 20. Oktober 1987 VII B 82/87, BFH/NV 1988, 387; vom 4. August 1988 VIII B 83/87, BFHE 154, 15, BStBl II 1988, 947).

 

Fundstellen

Haufe-Index 420945

BFH/NV 1996, 222

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