Entscheidungsstichwort (Thema)

Aussetzung des Verfahrens wegen Inhaftierung eines Verfahrensbeteiligten

 

Leitsatz (NV)

1. Die Entscheidung, das Verfahren auszusetzen oder von der nach § 74 FGO bestehenden Möglichkeit der Aussetzung keinen Gebrauch zu machen, ist eine Ermessensentscheidung. Bei der Ermessensausübung sind prozeßökonomische Gesichtspunkte und die Interessen der Verfahrensbeteiligten abzuwägen.

2. § 247 ZPO ist nicht anwendbar, wenn der Verfahrensbeteiligte aus in seiner Person liegenden Gründen an der Ausübung seiner prozessualen Rechte gehindert ist. Die Straf- und Untersuchungshaft ist zwar eine obrigkeitliche Anordnung, durch die eine Person von der Kommunikation mit dem Prozeßgericht abgeschnitten werden kann. Sie ist aber ein nur in der Person des betreffenden Häftlings liegender Grund.

 

Normenkette

FGO §§ 74, 155; ZPO § 247

 

Verfahrensgang

FG Münster

 

Tatbestand

Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) war in den Jahren 1973 bis 1983 (Streitjahre) freiberuflich tätig. 1984 bis 1988 fand bei ihm eine Steuerfahndungsprüfung statt, die die Streitjahre betraf. Auf der Grundlage der Feststellungen des Prüfers erließ der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt -- FA --) im Jahr 1989 Einkommen- und Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre, die der Kläger nach weitgehend erfolglosem Einspruchsverfahren zum Gegenstand mehrerer beim Finanzgericht (FG) bereits anhängiger Klageverfahren machte. Diese Verfahren verband das FG zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung.

Mit Schriftsätzen vom 28. April und 10. Oktober 1992 sowie 28. Februar 1993 beantragte der Kläger, der durch rechtskräftiges Urteil wegen Steuerhinterziehung, Betruges, Urkundenfälschung und Urkundenunterdrückung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt worden war und sich seit mehreren Jahren in Straf- bzw. Untersuchungshaft befindet, das Verfahren gemäß § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auszusetzen oder nach § 251 der Zivilprozeßordnung (ZPO) i. V. m. § 155 FGO das Ruhen des Verfahrens anzuordnen. Zur Begründung trug er im wesentlichen und sinngemäß vor:

a) L besitze Akten des Klägers, deren Inhalt streitentscheidend sei. Der Kläger habe L ohne Erfolg zur Herausgabe der Akten aufgefordert.

Er werde ihn verklagen und habe gegen ihn schon Strafanzeige wegen Urkundenvorenthaltung gestellt. Vom Ausgang dieser Verfahren hänge die Entscheidung des Rechtsstreits ab. Deshalb sei das Verfahren bis zum Ablauf von drei Monaten nach Rück gabe der Akten auszusetzen oder bis zu diesem Zeitpunkt das Ruhen des Verfahrens anzuordnen.

b) Beim FG seien mehrere Rechtsstreite anhängig, in denen über die Feststellung von Verlusten des Klägers aus einer Betei ligung an der X-GmbH und atypisch stille Gesellschaft (X), über den Erlaß von Säumniszuschlägen und Steuer- und Haftungs ansprüchen in Zusammenhang mit der Z- GmbH und über den vom Kläger begehrten Erlaß von Einkommen- und Umsatzsteuer sowie Säumniszuschlägen gestritten werde. Aus diesen Verfahren ergäben sich Verluste und Betriebsausgaben, die weit über den streitigen Gewinnänderungen lägen. Aus Gründen der Prozeßökonomie sei das Verfahren deshalb bis zum rechtskräftigen Abschluß der anderen Rechtsstreite auszusetzen oder sein Ruhen anzuordnen.

c) Er sei nicht mehr in der Lage, das Verfahren aus der Haft heraus zu betreiben.

Vorrangig müsse er sich um seine Haftentlassung bemühen. Gegen die Ablehnung der Haftentlassung durch das Landgericht und das Oberlandesgericht habe er beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den Erlaß einer einstweiligen Anordnung beantragt. Bis zur Entscheidung des BVerfG oder einer Entscheidung des u. U. anzurufenden Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müsse das Verfahren ruhen.

Die Verwaltung der Haftanstalt beurteile seine mit den zahlreichen Rechtsstreiten verbundenen Tätigkeiten als unerlaubte Selbstbeschäftigung und habe ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet. Seine Post und insbesondere der Schriftverkehr mit dem FG und dem FA werde widerrechtlich geöffnet und gelesen. Seine Zelle werde ständig kontrolliert und dabei werde unter Verletzung des Steuergeheimnisses in den Akten herumgesucht und gelesen. Er wehre sich dagegen. Bis zur endgültigen Klärung dieser Vorgänge im Widerspruchs- und Klageverfahren beim Justizvollzugsamt bzw. Landgericht müsse der Rechtsstreit zum Stillstand gebracht werden. Sollte das Landgericht eine für ihn negative Entscheidung treffen, blieben diese den Fortgang des Verfahrens hindernden Umstände bis zu seiner Entlassung aus der Haft bestehen.

Das FA stimmte dem Antrag auf Ruhen des Verfahrens nicht zu. Mit Beschluß vom 23. Juli 1993 lehnte das FG durch Entscheidung des zum Berichterstatter bestimmten Richters die Anträge ab.

Gegen den Beschluß legte der Kläger form- und fristgerecht Beschwerde ein. Sein Prozeßbevollmächtigter kündigte an, die Beschwerde werde begründet, sobald über den vom Kläger gleichzeitig gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe (PKH) positiv entschieden worden sei.

Im Verfahren zur Bewilligung von PKH hat der Kläger sinngemäß u. a. vorgetragen:

Aufgrund der Haftbedingungen sei er verhandlungsunfähig und damit auch prozeßführungsunfähig. Er habe die Verfahren bisher nur mit Hilfe Dritter trotz seiner Inhaftierung weiterführen können. Nach der verschärften Postkontrolle sei dies nicht mehr möglich. Die Zellenkontrollen hinderten ihn aus straf-und zivilrechtlichen Gründen an der offenen Darlegung von Sachverhalten und Beweismitteln. Zudem würden ihm alle Unterlagen weggenommen, die er bei der angeblich verbotenen Selbstbeschäftigung benutzt habe.

Es bestehe ein Prozeßführungshindernis, solange er die ihm von L oder einem Herrn G entwendeten Akten nicht zurückerhalten habe. Das FG dürfe ihn nicht auf einen Vortrag aus der Erinnerung verweisen. Die Vorgänge, über die die Akten Auskunft geben könnten, lägen nunmehr 10 bis 20 Jahre zurück. Die Erinnerung sei daher nicht mehr zuverlässig und werde vom FG wohl auch nicht als Beweismittel akzeptiert. Das FG sei vielmehr verpflichtet, L und G als Zeugen zu verhören und zur Herausgabe der Akten zu verpflichten.

Die Weigerung des FA, dem Ruhen des Verfahrens zuzustimmen, sei rechtsmißbräuchlich und daher unbeachtlich. Das FA habe gegenüber dem Kläger eine erhöhte Fürsorgepflicht. Ohne die Fehler des FA wäre es nicht zu dem Rechtsstreit gekommen.

Falls die formalen Voraussetzungen der §§ 74 FGO und 251 ZPO nicht erfüllt seien, müsse die Aussetzung oder das Ruhen des Verfahrens aus verfassungsrecht lichen Gründen und zur Wahrung der Menschenrechte angeordnet werden.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde war zurückzuweisen. Sie ist nicht begründet.

1. Das FG war nicht verpflichtet, das Verfahren gemäß § 74 FGO auszusetzen.

a) Nach dieser Vorschrift kann das Gericht die Aussetzung der Verhandlung anordnen, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist (sog. Aussetzung des Verfahrens). Die Entscheidung, das Verfahren auszusetzen oder von der nach § 74 FGO bestehenden Möglichkeit der Aussetzung keinen Gebrauch zu machen, ist eine Ermessensentscheidung (Senatsbeschluß vom 8. Mai 1991 I B 132, 134/90, BFHE 164, 194, BStBl I 1991, 641 m. w. N.). Bei der Ermessensausübung sind prozeßökonomische Gesichtspunkte und die Interessen der Verfahrensbeteiligten abzuwägen (Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl. 1993, § 74 Rz. 7).

b) Die Entscheidung des FG, das Verfahren nicht gemäß § 74 FGO auszusetzen, war ermessensfehlerfrei.

Die die Haft des Klägers betreffenden Verfahren haben keine Rechtsverhältnisse zum Gegenstand, von deren Bestehen oder Nichtbestehen die Entscheidung des Rechtsstreites abhängt. Aufgrund dieser Verwaltungs- und Gerichtsverfahren darf der Rechtsstreit daher nicht ausgesetzt werden.

Kein Grund für eine Aussetzung des Verfahrens sind auch das vom Kläger angestrebte Strafverfahren gegen L und G und die vom Kläger angekündigte Klage gegen L auf Herausgabe von Akten. Nach § 74 FGO können nur bereits anhängige Rechtsstreite zu einer Verfahrensaussetzung führen.

Das Verfahren ist auch nicht aufgrund der beim FG anhängigen Rechtsstreite wegen Gewinnfeststellungen der X und Erlaß von Steuer- und Haftungsansprüchen sowie Säumniszuschlägen auszusetzen. Die anderen Rechtsstreite sind nicht in dem Sinn vorgreiflich, daß über sie aus Rechtsgründen notwendigerweise vorrangig zu entscheiden ist. Auch Gründe der Prozeßökonomie sprechen nicht dafür, das Verfahren bis zur Entscheidung der anderen Rechtsstreite auszusetzen. Zwar müßte das FG das Verfahren aus prozeßökonomischen Gründen aussetzen, wenn mit hinreichender Sicherheit davon auszugehen wäre, daß die anderen Rechtsstreite früher und mit weniger Aufwand zu entscheiden sind und nach einer Entscheidung dieser Rechtsstreite das Verfahren wegen Einkommen- und Umsatzsteuer 1973 bis 1983 nicht mehr fortgeführt wird. Diese Voraussetzungen sind aber nicht erfüllt. Die Rechtsstreite betreffen unterschiedliche Streitpunkte und der Kläger ist bei einem für ihn ungünstigen Ausgang der anderen Rechtsstreite nicht gehindert, das Verfahren wegen Einkommen- und Umsatzsteuer 1973 bis 1983 weiter zu betreiben. Außerdem kann der Rechtsstreit wegen der Gewinnfeststellungen der X nach den Vorstellungen des FG zeitgleich mit dem Rechtsstreit wegen Einkommen- und Umsatzsteuer 1973 bis 1983 entschieden werden.

2. Das FG mußte das Verfahren nicht von Amts wegen gemäß § 247 ZPO i. V. m. § 155 FGO aussetzen.

Wie die zahlreichen Schriftsätze des Klägers zeigen, war und ist er durch die Haft nicht von dem Verkehr mit dem Prozeßgericht abgeschnitten. Zudem ist § 247 ZPO nicht anwendbar, wenn der Verfahrensbeteiligte aus in seiner Person liegenden Gründen an der Ausübung seiner prozessualen Rechte gehindert ist (s. Greger in Zöller, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 18. Aufl. 1993, § 237 Rdnr. 2; Roth in Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 21. Aufl. 1994, § 247 Rdnr. 3). Die Straf- und Untersuchungshaft ist zwar eine obrigkeitliche An ordnung, durch die eine Person von der Kommunikation mit dem Prozeßgericht abgeschnitten werden kann. Sie ist aber ein nur in der Person des betreffenden Häftlings liegender Grund.

3. Das Verfahren wurde durch die -- vom Senat unterstellte -- Verschärfung der Haftbedingungen des Klägers nicht nach § 241 Abs. 1 Satz 1 ZPO i. V. m. § 155 FGO unterbrochen.

Der Kläger hat zwar behauptet, er sei aufgrund der Haftbedingungen nunmehr prozeßunfähig. Es fehlt aber jeglicher Anhaltspunkt dafür, daß er tatsächlich nicht mehr in der Lage ist, seine Rechtsstreite wie bisher weiter aus der Haft zu betreiben. Die umfangreichen Schriftsätze des Klägers zeigen das Gegenteil. Ein amtsärztliches Attest, daß der Kläger prozeßunfähig ist, fehlt.

4. Zu Recht hat das FG es auch abgelehnt, das Ruhen des Verfahrens anzuordnen.

Das Ruhen des Verfahrens darf nur angeordnet werden, wenn Kläger und Beklagter dies übereinstimmend beantragen (§ 251 Abs. 1 Satz 1 ZPO i. V. m. § 155 FGO; Beschluß des Bundesfinanzhofs vom 21. Februar 1989 IV B 39/87, BFH/NV 1990, 375; Gräber/Koch, a.a.O., § 74 Rz. 23). Das FA hat keinen Antrag auf Ruhen des Verfahrens gestellt. Die Weigerung des FA, sich dem Antrag des Klägers auf Ruhen des Verfahrens anzuschließen, ist entgegen der Auffassung des Klägers nicht rechtsmißbräuchlich. Das FA hat in Hinblick auf die Höhe der streitigen Steuerbeträge, die seit den Streitjahren vergangene Zeit und die bisherige Dauer des Verfahrens ein berechtigtes Interesse daran, daß der Rechtsstreit nicht weiter verzögert wird.

5. Die Auffassung des Klägers, die Entscheidung des FG widerspreche rechtsstaatlichen Grundsätzen und verletze die Menschenrechte, ist abwegig. Die Ablehnung der Anträge auf Aussetzung oder Ruhen des Verfahrens schränkt das Recht des Klägers auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren weder rechtlich noch tatsächlich ein. Das FG hat auf die sich für den Kläger aus der Inhaftierung ergebenden Schwierig keiten bei der Prozeßführung in der Ver gangenheit durch großzügig bemessene Fristen und Gewährung umfangreicher Akteneinsicht in der Haftanstalt Rücksicht genommen. Es ist nicht ersichtlich, daß es sich in Zukunft anders verhalten wird, wenn der Kläger seiner Mitwirkungs- und Wahrheitspflicht (§ 76 Abs. 1 FGO) nachkommt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 420104

BFH/NV 1995, 401

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