Leitsatz (amtlich)

1. Eine unzulässige Nichtzulassungsbeschwerde, mit der ein wesentlicher Verfahrensmangel i.S. von § 116 Abs.1 FGO gerügt wird, kann nicht in eine nach dieser Vorschrift statthafte zulassungsfreie Revision umgedeutet werden.

2. Ein Beteiligter war "im Verfahren nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten" (§ 116 Abs.1 Nr.3 FGO), wenn das FG in einem Rechtsstreit mit einem Streitwert bis zu 500 DM ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entschieden hat, obwohl der Beteiligte eine solche nach Art.3 § 5 Satz 2 VGFGEntlG beantragt hatte.

3. Ein Antrag auf mündliche Verhandlung liegt auch in der Absichtserklärung, die Sachanträge in der mündlichen Verhandlung zu stellen.

 

Orientierungssatz

1. Ist die Revision nicht zugelassen, so kann ein in § 116 Abs. 1 FGO genannter Verfahrensmangel nur mit der zulassungsfreien Revision, nicht aber auch mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO gerügt werden. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist insoweit nicht statthaft (Anschluß an die ständige BVerwG-Rechtsprechung).

2. Ein Verfahrensmangel i.S. des § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO ist u.a. dann anzunehmen, wenn das FG irrtümlich einen Verzicht auf mündliche Verhandlung angenommen und somit unter Verstoß gegen § 90 Abs. 1, 2 FGO durch Urteil entschieden hat (vgl. BFH-Urteil vom 25.8.1982 I R 120/82).

3. Das Verfahrensgrundrecht des Art. 19 Abs. 4 GG garantiert dem Bürger einen effektiven Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Der Rechtsweg darf weder ausgeschlossen noch darf er in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Dies gilt für den ersten Zugang zum Gericht und auch für die Wahrnehmung aller Instanzen, die eine Prozeßordnung jeweils vorsieht (BVerfG).

 

Normenkette

FGO § 116 Abs. 1 Nr. 3; VGFGEntlG Art. 3 § 5 S. 2; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 90 Abs. 1-2; GG Art. 19 Abs. 4

 

Tatbestand

Im Hauptverfahren begehrt der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung für das Jahr 1982, zusätzlich Aufwendungen in Höhe von insgesamt 701 DM als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit und Vermietung und Verpachtung zu berücksichtigen.

Während des finanzgerichtlichen Verfahrens trug der Kläger mit Schriftsatz vom 29.April 1985 u.a. wörtlich vor:

"Ich beabsichtige, in der mündlichen Verhandlung

folgende Anträge zu stellen:

1. ....."

Das Finanzgericht (FG) hat die Klage unter Hinweis auf Art.3 § 5 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit vom 31.März 1978 --VGFGEntlG-- (BGBl I 1978, 446, BStBl I 1978, 174) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil mit abgekürztem Tatbestand und Entscheidungsgründen i.S. von § 105 Abs.5 der Finanzgerichtsordnung (FGO) als unbegründet abgewiesen.

Mit Schriftsatz vom 25.Oktober 1985, beim FG eingegangen am 28.Oktober 1985, führte der Kläger wörtlich aus, er lege "gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 28.8.1985 Beschwerde ein mit dem Antrag, die Revision gegen das o.g. Urteil gemäß § 115 Abs.2 Ziffer 3 FGO zuzulassen, weil bei dem geltend gemachten Verfahrensmangel die angefochtene Entscheidung auf diesem Verfahrensmangel beruht."

Einen Verfahrensmangel sieht der Kläger in dem Umstand, daß das FG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch Urteil entschieden hat. Er habe nämlich im Schriftsatz vom 29.April 1985 die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt. Es hätte deshalb gemäß Art.3 § 5 Satz 2 VGFGEntlG mündlich verhandelt werden müssen.

Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) beantragt, die Nichtzulassungsbeschwerde als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde, der das FG nicht abgeholfen hat, ist unzulässig.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- (siehe Beschlüsse vom 8.März 1961 VIII B 183.60, BVerwGE 12, 107; vom 14.August 1967 IV B 279/65, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1968, 69; vom 21.Februar 1973 IV C B 68/72, Steuerrechtsprechung in Karteiform --StRK--, Finanzgerichtsordnung, § 115, Rechtsspruch 132) kann, wenn die Revision nicht zugelassen ist, ein in § 133 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) genannter Verfahrensmangel nur mit der zulassungsfreien Revision, nicht aber auch mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision gemäß § 132 Abs.2 Nr.3 VwGO gerügt werden. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist insoweit nicht statthaft. Der Senat folgt dieser Rechtsauffassung bei der Auslegung der im Streitfall anzuwendenden Vorschrift des § 115 Abs.2 Nr.3 FGO. Die Vorschriften des § 132 Abs.2 Nr.3 VwGO und des § 133 VwGO stimmen inhaltlich überein mit den Vorschriften des § 115 Abs.2 Nr.3 FGO und des § 116 Abs.1 FGO.

Mit der Behauptung in der Beschwerdebegründung, das FG habe zu Unrecht ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entschieden, rügt der Kläger als wesentlichen Verfahrensmangel i.S. des § 116 Abs.1 FGO, daß er im Verfahren nicht nach den Vorschriften des Gesetzes vertreten war (§ 116 Abs.1 Nr.3 FGO). Der Kläger hat zwar nicht ausdrücklich dargetan, daß das Verfahren vor dem FG gegen § 116 Abs.1 Nr.3 FGO verstoßen habe. Dies ist auch nicht erforderlich. Es genügt, daß der Kläger substantiiert Tatsachen vorgetragen hat, die einen wesentlichen Verfahrensmangel i.S. des § 116 Abs.1 Nr.3 FGO ergeben (vgl. § 120 Abs.2, Alternative 2 FGO).

Ein Verfahrensmangel i.S. des § 116 Abs.1 Nr.3 FGO ist u.a. dann anzunehmen, wenn das FG irrtümlich einen Verzicht auf mündliche Verhandlung angenommen und somit unter Verstoß gegen § 90 Abs.1 und § 90 Abs.2 FGO durch Urteil entschieden hat (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 25.August 1982 I R 120/82, BFHE 136, 518, BStBl II 1983, 46). Das gleiche muß aber auch gelten, wenn das FG --wie im Streitfall-- im Anwendungsbereich des Art.3 § 5 VGFGEntlG übersehen hat, daß ein Beteiligter die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt hat. Entscheidet das FG in diesem Fall unter Verstoß gegen Art.3 § 5 Satz 2 VGFGEntlG ohne mündliche Verhandlung durch Urteil, so ist der Beteiligte in gleicher Weise gehindert, seine Belange wahrzunehmen, wie in den Fällen der unterlassenen Ladung des Beteiligten oder eines Prozeßbevollmächtigten zur mündlichen Verhandlung, in denen nach der ständigen Rechtsprechung des BFH ein Verfahrensmangel i.S. des § 116 Abs.1 Nr.3 FGO anzunehmen ist (vgl. BFH-Urteil in BFHE 136, 518, BStBl II 1983, 46, m.w.N.; vgl. auch BVerwG-Urteil vom 1.Dezember 1982, 9 CB 748.80, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, begründet von Buchholz, 310, § 139 VwGO Nr.39).

Im Streitfall durfte das FG nach Art.3 § 5 VGFGEntlG nicht ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden. Nach dieser Vorschrift kann das FG --abweichend von § 90 Abs.1 und 2 FGO-- auch ohne Einverständnis der Beteiligten von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen und durch Urteil entscheiden, wenn kein Beteiligter mündliche Verhandlung beantragt hat. Diese Voraussetzungen für eine Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung sind im Streitfall nicht gegeben.

Der Kläger hat zutreffend dargelegt, daß er nach dem Wortlaut seines Schriftsatzes vom 29.April 1985 einen Antrag auf mündliche Verhandlung i.S. des Art.3 § 5 Satz 2 VGFGEntlG gestellt hat. Die Erklärung des Klägers, er beabsichtige in der mündlichen Verhandlung, bestimmte, näher bezeichnete Anträge zu stellen, kann nur dahingehend verstanden werden, daß die Antragstellung der mündlichen Verhandlung vorbehalten bleiben soll. Hiermit ist aber auch --wie dies für einseitige prozeßgestaltende Prozeßhandlungen zu verlangen ist-- klar, eindeutig und vorbehaltlos ausgedrückt, daß der Kläger die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wünscht (vgl. auch BFH-Beschluß vom 22.Juli 1983 VI B 180/82, BFHE 139, 22, BStBl II 1983, 762, Ziff.2).

Zumindest mußte der Wortlaut des o.a. Schriftsatzes ernstliche Zweifel in der Hinsicht hervorrufen, ob im Klageverfahren gemäß Art.3 § 5 VGFGEntlG ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entschieden werden durfte. Jedenfalls hätten diese sich aufdrängenden Zweifel das FG wegen des besonderen Rechtswertes der mündlichen Verhandlung (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 11.Februar 1982 11 RA 50/81, Monatsschrift für Deutsches Recht --MDR-- 1982, 700) veranlassen müssen, Rückfrage beim Kläger zu halten (vgl. auch Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11.Aufl., § 90 FGO Tz.3; Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Bd.3 Tz.12544, a.E.). Ohne eine solche Rückfrage durfte das FG im Streitfall --auch unter Beachtung des ihm in Art.3 § 5 Satz 1 VGFGEntlG eingeräumten Gestaltungsspielraums-- nicht ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.

Trotz des insoweit zu bejahenden Verfahrensmangels kann die Beschwerde keinen Erfolg haben. Denn eine Umdeutung der Nichtzulassungsbeschwerde in eine zulassungsfreie Revision ist wegen der Eindeutigkeit des eingelegten Rechtsbehelfs und der erheblichen Unterschiede der angeführten Verfahrensarten nicht möglich (vgl. BFH-Beschlüsse vom 2.Oktober 1969 I B 14/69, BFHE 97, 1, BStBl II 1969, 735; vom 19.Januar 1968 III R 147/66, BFHE 91, 460, BStBl II 1968, 383; Maetzel, MDR 1961, 453, 455, Ziff.5 a). Im übrigen kann eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung einer Revision, die ein Steuerberater als Prozeßbevollmächtigter im Anschluß an eine ausreichende Rechtsmittelbelehrung eingelegt hat, nicht in eine Revision umgedeutet werden (vgl. BVerwG-Beschluß vom 19.Juli 1974 VI C 63.74, Bayerische Verwaltungsblätter 1974, 708, m.w.N.). Ausgehend von diesen Rechtsgrundsätzen ist der Senat somit nicht der Auffassung, daß die Umdeutung einer Nichtzulassungsbeschwerde in eine zulassungsfreie Revision schon dann zulässig ist, wenn in der Beschwerdebegründung die Rüge eines der in § 116 Abs.1 FGO aufgezählten schweren Verfahrensmängel enthalten gewesen ist (gl.A.: Tipke/Kruse, a.a.O., § 115 FGO Tz.81 und § 116 FGO Tz.4; Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 7.Aufl., 1986, § 132, Anm.19 c; Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 8.Aufl., 1980, Anm.23 zu § 132, und Anm. 2 zu § 133; a.A.: Gräber, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 1968, 173, 176; offengelassen im BFH-Beschluß vom 11.Dezember 1985 I B 48/85, I R 211/85, nicht amtlich veröffentlicht).

Diese rechtliche Würdigung der Rechtsmittelschrift verstößt nicht gegen das Verfahrensgrundrecht des Art.19 Abs.4 des Grundgesetzes (GG).

Das Verfahrensgrundrecht des Art.19 Abs.4 GG garantiert dem Bürger einen effektiven Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Der Rechtsweg darf weder ausgeschlossen noch darf er in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Dies gilt für den ersten Zugang zum Gericht und auch für die Wahrnehmung aller Instanzen, die eine Prozeßordnung jeweils vorsieht (Beschlüsse des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 29.Oktober 1975 2 BvR 630/73, BVerfGE 40, 272, 274, und vom 4.Mai 1977 2 BvR 616/75, BVerfGE 44, 302, 305). Ausgehend von diesen Rechtsgrundsätzen wird im Streitfall dem Kläger durch die Ablehnung, die Nichtzulassungsbeschwerde in eine (zulassungsfreie) Revision umzudeuten, der Zugang zur Revisionsinstanz nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert. Es ist ein Gebot der Rechtssicherheit, den Kläger, der durch einen Steuerberater als Prozeßbevollmächtigten vertreten wird, in seinen Prozeßerklärungen beim Wort zu nehmen (vgl. BVerwG-Beschluß vom 30.April 1985 3 CB 35.84, Buchholz, a.a.O., 310, § 132 VwGO, Nr.231).

Eine Umdeutung ist auch nicht etwa deshalb geboten, weil dem Kläger wegen einer Rechtsungewißheit die Einlegung des zulässigen Rechtsmittels in unzumutbarer Weise erschwert gewesen wäre. Im Hinblick auf die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung zur irrtümlichen Entscheidung eines FG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (vgl. insbesondere BFH-Urteil in BFHE 136, 518, BStBl II 1983, 46) kann nicht davon ausgegangen werden, daß sich der Kläger in der schwierigen Situation befand, in der er nicht entscheiden konnte, ob er das Rechtsmittel der Nichtzulassungsbeschwerde oder der --zulassungsfreien-- Revision i.S. von § 116 Abs.1 Nr.3 FGO einlegen sollte.

 

Fundstellen

Haufe-Index 61209

BStBl II 1986, 679

BFHE 146, 395

BFHE 1986, 395

BB 1986, 1563-1563 (ST)

DB 1986, 1960-1960 (ST)

HFR 1986, 635-636 (ST)

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