Was unter einem rückwirkenden Ereignis zu verstehen ist, wird im Gesetz nicht näher bestimmt. Es genügt nicht, dass das spätere Ereignis (= alle rechtlich bedeutsamen Vorgänge; dazu gehören nicht nur solche mit ausschließlich rechtlichem Bezug, sondern auch tatsächliche Lebensvorgänge) den für die Besteuerung maßgeblichen Sachverhalt anders gestaltet. Die Änderung muss sich auch steuerrechtlich in der Weise auswirken, dass nunmehr der veränderte anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist. In welchen Fällen ein Ereignis – ausnahmsweise – die steuerliche Beurteilung eines in der Vergangenheit liegenden Sachverhalts noch zu beeinflussen vermag, richtet sich allein nach dem jeweils im Einzelfall einschlägigen materiellen Steuergesetz. Nach diesem ist zu beurteilen, ob zum einen eine Änderung des ursprünglich gegebenen Sachverhalts den Steuertatbestand überhaupt betrifft und ob darüber hinaus der bereits entstandene materielle Steueranspruch mit steuerlicher Rückwirkung noch geändert werden oder entfallen kann. Liegen beide Voraussetzungen vor, dann bedarf es für die Änderung eines bereits bestandskräftigen Steuerbescheids des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO als verfahrensrechtlicher Grundlage.[1]

 
Praxis-Beispiel

Rückzahlung von Einnahmen

Ein Steuerpflichtiger muss im Jahr 01 versteuerte Einnahmen im Jahr 02 zurückzahlen. Es handelt sich bei der Rückzahlung nicht um ein Ereignis mit Rückwirkung auf die Höhe der Einkommensteuer 01. Die Einkommensteuer entsteht mit Ablauf des Kalenderjahres. Ereignisse danach haben keinen Einfluss mehr auf sie. Im Beispielsfall ist der Rückzahlungsbetrag im Jahr 02 als negative Einnahme zu berücksichtigen.[2] Entsprechendes gilt umgekehrt für Rückflüsse von Werbungskosten; sie sind Einnahmen des Rückflussjahres.

 
Praxis-Beispiel

Vertragsaufhebung

Ein Arbeits- oder Mietvertrag wird im Jahr 02 mit Wirkung ab 1.1.01 geschlossen, geändert oder aufgehoben. Dies kann auf das Entstehen der Einkommensteuer 01 keine Wirkung haben. Eine Änderung des Einkommensteuerbescheids für 01 kommt nicht in Betracht.[3]

Wird aber ein Rechtsgeschäft wegen endgültigen Ausfalls einer in einem Vertrag vereinbarten Bedingung wirkungslos und verhalten sich die Parteien entsprechend dieser zivilrechtlichen Lage, liegt ein rückwirkendes Ereignis i. S. d. § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO vor.[4] Die zivilrechtliche Unwirksamkeit eines Rechtsgeschäfts ist steuerrechtlich also nur dann unerheblich, wenn die Beteiligten aus der anfänglichen oder späteren Unwirksamkeit keine Folgerungen ziehen, das Rechtsgeschäft also bestehen lassen statt rückgängig zu machen.[5] Diesen Fall regelt § 41 AO, der insoweit die Maßgeblichkeit der wirtschaftlichen Betrachtungsweise normiert.

Die Beispiele machen deutlich, dass bei den "laufend veranlagten" Steuern wie der Einkommensteuer die aufgrund des Eintritts neuer Ereignisse materiell-rechtlich erforderlichen steuerlichen Anpassungen regelmäßig nicht rückwirkend, sondern in dem Besteuerungszeitraum vorzunehmen sind, in dem die steuerliche Wirkung eintritt, z. B. nach dem Zu- und Abflussprinzip des § 11 EStG bei negativen Einnahmen oder Werbungskosten. Anders aber ist es bei Steuertatbeständen, die an einen einmaligen Vorgang anknüpfen.

Rückwirkende Ereignisse werden z. B. in folgenden Fällen bejaht[6]:

  • nachträgliche Zustimmung des Unterhaltsleistungen empfangenden Ehegatten zum Realsplitting des Gebers und Antrag des Gebers nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG[7], ebenso der Antrag des Gebers auf betragsmäßige Erweiterung (in Verbindung mit der erweiterten Zustimmungserklärung) eines bereits vorliegenden begrenzten Antrags auf Realsplitting[8], nicht aber ein nach Bestandskraft gestellter Antrag des Gebers bei für den Veranlagungszeitraum fortgeltender Zustimmungserklärung des Ehegatten[9], Stellung des Antrags auf Berücksichtigung der Unterhaltsleistungen nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG durch den Geber samt Einreichung der Zustimmungserklärung des Empfängers[10],
  • anderweitige Ausübung des Ehegatten/Lebenspartnerwahlrechts.[11]
  • als außergewöhnliche Belastung berücksichtigte Aufwendungen werden in den folgenden Jahren erstattet oder in Form von Schadensersatzleistungen ausgeglichen.
  • nachträgliche Feststellung der Vaterschaft oder der Nichtvaterschaft[12], ebenso die nachträgliche Anerkennung der Vaterschaft.[13]
  • Rückzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen mangels Versicherungspflicht, wenn im Jahr der Erstattung an den Steuerpflichtigen eine Kompensation mit gleichartigen Aufwendungen nicht möglich ist[14]; ebenso die Rückzahlung von ursprünglich als Sonderausgaben berücksichtigten Beiträgen für einen Basisrentenvertrag.[15]
  • Die Festsetzung der Steuer in einem Änderungsbescheid nach Eintritt der Bestandskraft, die aufgrund der im Änderungsbescheid berücksichtigten Besteuerungsgrundlagen erstmals eine erfolgreiche Antragstellung auf Günstigerprüfung gem. § 32d Abs. 6 EStG ermöglicht, ist ein rückwirkendes Ereignis i. S. d. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO, das einen korrekturbedürftigen Z...

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