Die neuen Tatsachen oder Beweismittel müssen rechtserheblich sein. Dies ergibt sich nicht aus dem Wortlaut, sondern aus dem Sinn und Zweck des § 173 AO. Die Rechtserheblichkeit ist zu bejahen, wenn das Finanzamt bei rechtzeitiger Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel schon bei der ursprünglichen Steuerfestsetzung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu der jetzt beabsichtigten Steuerfestsetzung gelangt wäre. Ist dies nicht der Fall, z. B. weil die ursprüngliche Steuerfestsetzung der damaligen Rechtsprechung des BFH oder der Verwaltungsauffassung entsprochen hat, darf der Steuerbescheid nicht geändert werden.[1] Dieser Grundsatz gilt zugunsten[2] wie zuungunsten des Steuerpflichtigen.

Rechtfertigender Grund für die Durchbrechung der Bestandskraft nach § 173 AO ist nicht die Unrichtigkeit der Steuerfestsetzung, sondern der Umstand, dass das Finanzamt bei seiner Entscheidung von einem unvollständigen Sachverhalt ausgegangen ist. Demnach ist die nachträgliche Berücksichtigung neuer Tatsachen strikt von der Korrektur von Rechtsfehlern abzugrenzen. Das Kriterium der Rechtserheblichkeit (Kausalität) der neuen Tatsache bei der ursprünglichen Veranlagung schließt demnach aus, dass die Beteiligten des Steuerschuldverhältnisses mithilfe eines Änderungsbescheids eine neue Tatsache zum bloßen Anlass oder Vorwand nehmen, ihre geläuterte Rechtsansicht nachträglich durchzusetzen. Der Gesetzgeber hat vielmehr dem Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit in solchen Fällen Vorrang vor der materiellen Richtigkeit der ergangenen Verwaltungsentscheidung eingeräumt.[3]

 
Praxis-Beispiel

Keine Korrektur bei neuer Rechtsprechung

Ein Steuerpflichtiger hat bestimmte Werbungskosten nicht geltend gemacht, weil sie aufgrund der damaligen Rechtsprechung und/oder Verwaltungsauffassung nicht anerkannt worden wären. Nach unanfechtbarer Einkommensteuerfestsetzung ergeht ein BFH-Urteil, wonach seine Aufwendungen abzugsfähig wären. Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO durch Nacherklärung ist nicht möglich, da zum Zeitpunkt des Ergehens des Einkommensteuerbescheids die Werbungskosten nicht berücksichtigt worden wären.

Wie das Finanzamt bei Kenntnis bestimmter Tatsachen einen Sachverhalt in seinem ursprünglichen Bescheid gewürdigt hätte, ist im Einzelfall aufgrund des Gesetzes, wie es nach der damaligen Rechtsprechung des BFH ausgelegt wurde, und den die Finanzämter bindenden Verwaltungsanweisungen zu beurteilen, die im Zeitpunkt des ursprünglichen Bescheiderlasses durch das Finanzamt gegolten haben.[4] Liegen unmittelbar zu der umstrittenen Rechtslage weder eine BFH-Rechtsprechung noch bindende Verwaltungsanweisungen vor, ist aufgrund anderer Umstände abzuschätzen, wie das Finanzamt in Kenntnis des vollständigen Sachverhalts entschieden hätte. Hierzu rechnet beispielsweise das Vorgehen der Finanzbehörden in Parallelverfahren. Darüber hinaus sind auch interne Schreiben und Mitteilungen, etwa die eines Landesfinanzministeriums an den Bundesminister der Finanzen, zu berücksichtigen. Das mutmaßliche Verhalten des einzelnen Sachbearbeiters und seine individuellen Rechtskenntnisse sind hingegen für die Frage, ob die Veränderung im Tatsächlichen oder in der rechtlichen Beurteilung liegt, aus gleichheitsrechtlichen Erwägungen ohne Bedeutung.[5]

Eine Änderung aufgrund einer nachträglich bekannten Tatsache ist dann nicht möglich, wenn es Anzeichen dafür gibt, dass die Verwaltung trotzdem die Steuern wie bisher festgesetzt hätte. Bei zweifelhafter Rechtslage, insbes. im Falle anhängiger Gerichtsverfahren, ist der Sachverhalt bereits in der Steuererklärung vollständig anzugeben und ggf. Einspruch gegen die Steuerfestsetzung einzulegen, soweit diese nicht vorläufig oder unter dem Vorbehalt der Nachprüfung steht.

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