A. Bedeutung der Vorschrift

 

Tz. 1

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

An den Wohnsitz bzw. in Ermangelung eines Wohnsitzes den gewöhnlichen Aufenthalt (§ 9 AO) im Inland knüpft die unbeschränkte Steuerpflicht natürlicher Personen im Bereich der Steuern vom Einkommen und Vermögen (ausgesetzt) sowie der Erbschaft- und Schenkungsteuer an (AEAO Vor §§ 8–9, Nr. 1 Satz 1). Auch für familienbezogene Entlastungen sind der Wohnsitz bzw. Aufenthalt von Bedeutung (§ 62 EStG). Darüber hinaus richtet sich die örtliche Zuständigkeit der FA für die Einkommen- und Vermögensteuer (§ 19 AO), die Erbschaft- und Schenkungsteuer (§ 35 ErbStG) und die KiSt nach dem Wohnsitz bzw. nach dem gewöhnlichen Aufenthalt. Bei Anwendung der Doppelbesteuerungsabkommen ist der Wohnsitz insofern von grundlegender Bedeutung, als diese Abkommen das Besteuerungsrecht primär demjenigen Staat zuerkennen, in dem der Stpfl. seinen Wohnsitz oder (mangels eines Wohnsitzes in einem der Vertragsstaaten) seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die Wohnsitzregelung des deutschen Steuerrechts wird durch Wohnsitzbestimmungen in DBA, die i. d. R. nur Kollisionen verhindern sollen, nicht berührt; Letztere haben Bedeutung für die Verteilung einzelner Steuergüter auf die beiden Vertragsstaaten. Die deutsche unbeschränkte Steuerpflicht besteht daher auch dann, wenn der Steuerpflichtige nach DBA im ausländischen Vertragsstaat ansässig ist, aber im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (BFH v. 04.06.1975, I R 250/73, BStBl II 1975, 708; AEAO Vor §§ 8–9, Nr. 1 Abs. 3). Sonderregelungen enthalten verschiedene zwischenstaatliche Vereinbarungen wie z. B. Art. 13 des Protokolls 7 über die Vorrechte und Befreiungen der europäischen Union vom 26.10.2012 (ABl. EU C 326 S. 266) oder das NATO-Truppenstatut (dazu s. Rz. 13 und AEAO Vor §§ 8–9, Nr. 1 Abs. 2), die als Fiktion den nationalen Regelungen vorgehen. Die Beweislast für die wohnsitzbegründenden Umstände trägt derjenige, der sich auf das Vorhandensein des Wohnsitzes beruft.

B. Tatsächliche Gestaltung

 

Tz. 2

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Die Vorschrift definiert einen eigenen steuerrechtlichen Begriff des Wohnsitzes. Einen Wohnsitz kann nur eine natürliche Person haben. Im Gegensatz zum bürgerlichen Recht, nach dem Begründung, Beibehaltung und Aufgabe des Wohnsitzes rechtsgeschäftliche Willenserklärungen darstellen, die Geschäftsfähigkeit voraussetzen (§§ 7, 8 BGB), knüpft der Wohnsitzbegriff des Steuerrechts an die tatsächliche Gestaltung der äußeren Verhältnisse an (st. Rspr., s. BFH v. 22.04.1994, III R 22/92, BStBl II 1994, 887). Melderechtliche Normen sowie bürgerlichrechtliche Vorschriften über Begründung, Beibehaltung und Aufgabe eines Wohnsitzes sind unmaßgeblich (BFH v. 23.11.2000, VI R 107/99, BStBl II 2001, 294 m. w. N.). Dies gilt auch für ausländerrechtliche Bestimmungen, die einem dauerhaften Verbleib im Inland entgegenstehen (FG BW v. 07.09.1990, IX K 96/88, EFG 1991, 102; Nds. FG v. 30.09.1997, XV 380/97 Ki, EFG 1998, 377). Die Willensrichtung (und damit auch die Geschäftsfähigkeit) des Stpfl. ist steuerlich unbeachtlich, solange und soweit sie zu der tatsächlichen Gestaltung in Widerspruch steht (BFH v. 23.11.1988 II R 139/87, BStBl II 1989, 182). Auch ein Minderjähriger kann also steuerlich einen Wohnsitz begründen und aufgeben, wobei es auf den Willen des gesetzlichen Vertreters nicht ankommt. Die Begründung und Aufhebung des Wohnsitzes setzt allerdings einen natürlichen Willen voraus (BFH v. 22.04.1994, III R 22/92, BStBl II 1994, 887 m. w. N.). Ein ins Ausland entführtes Kind behält i. d. R. seinen Wohnsitz im Inland, solange die Umstände nicht darauf schließen lassen, dass es nicht zurückkehrt (BFH v. 30.10.2002, VIII R 86/00, BFH/NV 2003, 464; BFH v. 05.05.2014, III B 156/13, BFH/NV 2014, 1208 m. w. N.).

 

Tz. 3

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Wie im bürgerlichen Recht kann auch in steuerlicher Hinsicht ein doppelter oder gar mehrfacher Wohnsitz, sei es im Inland oder im Ausland vorhanden sein (s. § 19 Abs. 1 Satz 2 AO; s. BFH v. 18.12.2013, III R 44/12, BFHE 244, 344 = BFH/NV 2014, 773 m. w. N.). Ebenso kann jemand an dem einen Ort seinen Wohnsitz und an einem anderen Ort seinen gewöhnlichen Aufenthalt haben; um die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts (§ 9 AO) zu begründen, braucht der Wohnsitz nicht aufgegeben zu sein. Wegen der Auswirkung auf die Zuständigkeit der FA s. § 19 AO.

C. Merkmale des Wohnsitzbegriffs

 

Tz. 4

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Im Einzelnen knüpft die Annahme eines Wohnsitzes im steuerlichen Sinne an folgende Merkmale an:

I. Vorhandensein einer Wohnung

 

Tz. 5

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Es muss eine Wohnung vorhanden sein. Das bedeutet, dass die vorhandenen Räume nach Ausmaß, baulicher Gestaltung und Einrichtung zum dauerhaften Wohnen geeignet sein müssen (BFH v. 22.04.1994, III R 22/92, BStBl II 1994, 887) und eine den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen der betreffenden Person entsprechende Bleibe darstellen (BFH v. 19.03.1997, I R 69/96, BStBl II 1997, 447). Nicht erforderlich ist, dass die Wohnung abgeschlossen ist oder Küche und separate Waschgelegenheit e...

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