Tz. 12

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Das in Art. 103 Abs. 1 GG verankerte Recht auf Gehör beinhaltet das Recht der Beteiligten an einem gerichtlichen Verfahren, sich vor Erlass der Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu äußern. Diesem Recht entspricht die Pflicht des Gerichts, Anträge und Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dabei ist das Recht auf Gehör nicht schon dann verletzt, wenn das FG in den Gründen seiner Entscheidung nicht auf jegliches Vorbringen eingeht, sondern erst dann, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, nicht nachgekommen ist. Die für das Gericht bestehenden Verpflichtungen sind vielfältiger Art und auch durch die konkreten Umstände des Einzelfalles bestimmt. Der Verwirklichung dieser verfassungsrechtlich verankerten Garantie dienen insbes. §§ 93 Abs. 1, 96 Abs. 2, 119 Nr. 3 FGO und § 278 Abs. 3 ZPO i. V. m. § 155 FGO; darüber hinaus finden sich in zahlreichen anderen Vorschriften gesondert geregelte Einzelfälle, die dieser Garantie Rechnung tragen sollen. Mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör korrespondiert ein gewisses Maß an Prozessverantwortung, die darin besteht, dass der Inhaber dieses Anspruchs im Prozess aktiv mitwirkt und die ihm gebotene Gelegenheit, sich Gehör zu verschaffen, nützt z. B. das Recht auf Akteneinsicht (§ 78 FGO) ausübt. Zu Einzelfällen der Verletzung rechtlichen Gehörs s. § 96 FGO Rz. 4 und 5.

 

Tz. 13

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Da die Verletzung des rechtlichen Gehörs zu den verzichtbaren Rügen gehört (§ 295 ZPO i. V. m. § 155 FGO), sollte die Verletzung des rechtlichen Gehörs nach Möglichkeit schon vor dem FG gerügt werden (BFH v. 26.01.1977, I R 163/74, BStBl II 1977, 348). Ist dies nicht geschehen, so ist in der Regel davon auszugehen, dass der Beteiligte auf eine entsprechende Rüge verzichtet (Verzichtswille ist nicht erforderlich) und deswegen sein Rügerecht verloren hat (st. Rspr., u. a. BFH v. 06.10.2010, V B 10/10, BFH/NV 2011, 276; BFH v. 06.12.2010, XI B 27/10, BFH/NV 2011, 645 m. w. N.; s. auch BVerwG v. 03.12.1979, 2 B 16/78, HFR 1981, 289). Diese Grundsätze gelten jedoch nicht ausnahmslos: Ist der Beteiligte vom Gericht in einer Weise unter Druck gesetzt worden, dass er außerstande war, seine Rechte in der mündlichen Verhandlung geltend zu machen, geht das Rügerecht nicht verloren (BFH v. 17.10.1979, I R 247/78, BStBl II 1980, 299; BFH v. 15.06.2000, IV B 6/99, BFH/NV 2000, 1445).

 

Tz. 14

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Die Rüge der Verletzung des Rechts auf Gehör ist nur dann schlüssig und damit zulässig erhoben, wenn substantiiert dargelegt wird, wozu sich der Kläger bzw. ein anderer Beteiligter (§ 57 FGO) infolge der Versagung des rechtlichen Gehörs nicht hat äußern können, was er bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätte und dass bei Berücksichtigung des übergangenen Vorbringens eine andere Entscheidung des FG möglich gewesen wäre (BFH v. 16.11.2016, II R 29/13, BStBl II 2017, 413). Dabei muss die behauptete Verletzung des rechtlichen Gehörs das Gesamtergebnis/den gesamten Streitstoff des Verfahrens erfassen. Bezieht sich der vermeintliche Gehörsverstoß dagegen nur auf einzelne Feststellungen/Teile des Streitstoffes, so ist die mögliche Kausalität des Verfahrensmangels für das Urteil darzulegen (BFH v. 10.11.2016, X B 85/16, BFH/NV 2017, 261). Insoweit schränkt die Rspr. die Wirkungen von § 119 Nr. 3 FGO als absolutem Revisionsgrund ein, da nach dem Wortlaut eine Kausalitätsprüfung gerade entbehrlich ist (zur Kritik Seer in Tipke/Kruse, § 119 FGO Rz. 60). Auf die Darstellung der Einzelheiten des angeblich nicht zur Kenntnis genommenen Vortrags kann ausnahmsweise dann verzichtet werden, wenn bereits das angefochtene Urteil klar erkennen lässt, dass dessen Nichtbeachtung die Entscheidung beeinflusste (BFH v. 23.10.1991, I R 5/91, BFH/NV 1992, 524).

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