Tz. 14

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

§ 2 Abs. 1 AO stellt ein einfaches Bundesgesetz dar und begründet keine weitere Ebene in der Normenhierarchie zwischen dem (Bundes-)Verfassungsrecht und dem einfachen Bundesrecht. Das bedeutet, dass die in Art. 59 Abs. 2 GG angeordnete Ranggleichheit zwischen völkerrechtlichen Verträgen und innerstaatlichem Recht nicht beseitigt wird (s. Rz. 2 f.). Andererseits stellt § 2 Abs. 1 AO mehr als nur eine völkerrechtsfreundliche Auslegungsregel dar.

 

Tz. 15

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Ein Vorrang von völkerrechtlichen Verträgen wird auch nicht durch Art. 25 Satz 2 GG begründet: Darin wird zwar der Vorrang allgemeiner Regeln des Völkerrechts angeordnet, aber die in Art. 59 Abs. 2 GG genannten völkerrechtlichen Verträge zählen mangels allgemeiner Geltung nicht zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts (BVerfG v. 25.03.1999, 2 BvE 5/99, BVerfGE 100, 266; BVerfG v. 06.12.2006, 2 BvM 9/03, BVerfGE 117, 141; BVerfG v. 08.05.2007, 2 BvM 1/03, 2 BvM 2/03, 2 BvM 3/03, 2 BvM 4/03, 2 BvM 5/03, 2 BvM 1/06, 2 BvM 2/06, BVerfGE 118, 124; Jarass in Jarass/Pieroth, Art. 25 GG Rz. 6; Drüen in Tipke/Kruse, § 2 AO Rz. 2; Musil in HHSp, § 2 AO Rz. 160 f.; Oellerich in Gosch, § 2 AO Rz. 78).

 

Tz. 16

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Die Auflösung von Kollisionen zwischen völkerrechtlichen Verträgen und nationalem Steuerrecht kann – da es sich um ranggleiches handelt – demnach nur nach den Kollisionsregelungen der juristischen Methodenlehre erfolgen. Denn es gilt – wie dargestellt (s. Rz. 14 f.) – nicht die Lex-superior-Regel ("lex superior derogat legi inferiori"), da das GG keine Rechtsquellen kennt, die einen Rang zwischen den (einfachen) Bundesgesetzen und der Verfassung beanspruchen (Bartone, S. 154 m. w. N.; Musil in HHSp, § 2 AO Rz. 163). Vielmehr ist im Verhältnis von völkerrechtlichem Vertrag und nationalem Steuergesetz die Lex-specialis-Regel anzuwenden ("lex specialis derogat legi generali"), denn insbes. in DBA werden in aller Regel bzgl. einzelner Fragen spezielle Regelungen abweichend vom innerstaatlichen Steuerrecht geregelt. Diese treten folglich als allgemeinere Gesetze hinter die Abkommensregeln zurück (Bartone, S. 154; einschränkend Drüen in Tipke/Kruse, § 2 AO Rz. 2 und 38; Wassermeyer, StuW, 1990, 411; auch BVerfG v. 15.12.2015, 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1).

 

Tz. 17

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Wird aber die Kollision zwischen DBA und nationalem Steuerrecht mit Hilfe der allgemeinen Regeln aufgelöst, gilt auch die Lex-posterior-Regel ("lex posterior derogat legi priori"), wenn der nationale Gesetzgeber nach Abschluss des DBA denselben Gegenstand durch ein Steuergesetz (erneut) regelt und damit u. U. eine DBA-Regelung einschränkt oder obsolet macht ("treaty override"). Es konkurrieren in diesem Fall idealiter zwei Kollisionsregeln der juristischen Methodenlehre, nämlich die Lex-specialis-Regel mit der Lex-posterior-Regel. Um unerwünschte Konflikte und widersprüchliche Ergebnisse auf derselben Ebene der Normenhierarchie zu vermeiden, muss man indessen davon ausgehen, dass die Lex-specialis-Regel der Lex-posterior-Regel vorgeht, es sei denn, der Gesetzgeber ordnet ausdrücklich etwas anderes an (Bartone, S. 154; Konzelmann, S. 216 f.; i. E. ebenso Musil in HHSp, § 2 AO Rz. 174; vgl. dazu auch BFH v. 25.05.2016, I R 64/13, BStBl II 2017, 1185). Somit gilt im Verhältnis nationaler Steuergesetze zu den DBA-Regelungen der Grundsatz "lex posterior generalis non derogat legi speciali priori" (Bartone, S. 154; gl. A. Oellerich in Gosch, § 2 AO Rz. 75; a. A. BVerfG v. 15.12.2015, 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1). Nach der Rspr. des BVerfG ergibt sich indessen weder aus Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG, dem Rechtsstaatsprinzip oder dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG eine Einschränkung für die Geltung des Lex-posterior-Grundsatzes für völkerrechtliche Verträge. Daher können spätere Gesetzgeber – entsprechend dem durch die Wahl zum Ausdruck gebrachten Willen des Volkes – innerhalb der vom GG vorgegebenen Grenzen Rechtsetzungsakte früherer Gesetzgeber revidieren (BVerfG v. 15.12.2015, 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1).

 

Tz. 18

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Somit ist es dem nationalen Gesetzgeber trotz der Regelung in § 2 Abs. 1 AO nicht verwehrt, die innerstaatliche Verbindlichkeit einer völkervertraglichen Vereinbarung durch ein späteres innerstaatliches Gesetz zu ändern oder gar außer Kraft zu setzen ("treaty overriding"). Allerdings teilt das BVerfG nicht die verfassungsrechtlichen Zweifel des BFH (vgl. BFH v. 10.01.2012, I R 66/09, BFH/NV 2012, 1056; BFH v. 11.12.2013, I R 4/13, BFH/NV 2014, 614), sondern hält das "treaty overriding" für verfassungsrechtlich zulässig (BVerfG v. 15.12.2015, 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1). Außerdem soll es dem Gesetzgeber nicht verwehrt sein, eine gegenüber Zustimmungsgesetzen zu DBA vorrangige (speziellere) Regelung derart zu treffen, dass nachfolgende DBA nach dem Lex-posterior-Grundsatz kein Vorrang gegenüber dieser Regelung erlangen soll (BFH v. 25.05.2016, I...

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