Tz. 4

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Allerdings dürfen der Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen sich die Beteiligten hinreichend äußern konnten (rechtliches Gehör, § 96 Abs. 2 FGO; siehe die Erläuterungen zu s. § 91 AO). Das Gericht darf seine Entscheidung auf einen Gesichtspunkt, den ein Beteiligter erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, nur stützen, wenn es Gelegenheit zur Äußerung dazu gegeben hat. Dies setzt vor allem voraus, dass das Gericht entscheidungserhebliche Tatsachen, Unterlagen und Beweisangebote zur Kenntnis nimmt (BVerfG v. 05.12.1995, 1 BvR 1463/89, HFR 1996, 153; BFH v. 22.11.2012, XI B 113/11, BFH/NV 2013, 564; BFH v. 04.03.2013, IX S 12/12, BFH/NV 2013, 1265; BFH v. 21.02.2017, VIII R 45/13, BFH/NV 2017, 1116) und bei seiner Entscheidung in die Erwägungen einbezieht. Allerdings ist nicht erforderlich, dass sämtliche Erwägungen des Gerichts ihren Niederschlag in den Entscheidungsgründen finden müssen (st. Rspr., u. a. BFH v. 11.10.2010, IX B 54/10, BFH/NV 2011, 289; BFH v. 15.12.2010, XI B 46/10, BFH/NV 2011, 448) oder allen Beweisangeboten nachgegangen werden muss (BFH v. 07.11.2012 I B 172/11, BFH/NV 2013, 561). Vielmehr ist der Anspruch auf rechtliches Gehör erst verletzt, wenn sich aus den besonderen Umständen des Einzelfalles ergibt, dass das Gericht tatsächliches Vorbringen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen und ersichtlich nicht in seine Erwägungen aufgenommen hat (BFH v. 06.12.2011, IX S 19/11, BFH/NV 2012, 438). Die Gewährung rechtlichen Gehörs bedeutet jedoch nicht, dass das Gericht den Kläger "erhören", sich also seinen Ansichten anschließen müsste (BFH v. 27.04.2015, X B 47/15, BFH/NV 2015, 1356). Noch weitergehend kann das Gericht verpflichtet sein, die Beteiligten – auch durch richterliche Hinweise – über den Stand des Verfahrens zu informieren (BFH v. 28.07.1998, VIII B 68/96, BFH/NV 1998, 29; BFH v. 12.09.1997, XI B 72/96, BFH/NV 1998, 468). Allerdings ergibt sich aus § 96 Abs. 2 FGO keine Verpflichtung zum Rechtsgespräch (BFH v. 03.03.1998, VIII R 66/96, BStBl II 1998, 383; BFH v. 25.05.2000, VI B 100/00, BFH/NV 2000, 1235; BFH v. 26.04.2000, III B 47/99, BFH/NV 2000, 1451); diese ergibt sich aber aus § 93 Abs. 1 FGO. Unter Umständen kann auch die Gewährung von Akteneinsicht geboten sein (BFH v. 07.09.1999, IX B 96/99, BFH/NV 2000, 218; zur Abgrenzung: BFH v. 09.09.2011, VII B 73/11, BFH/NV 2012, 56). Auch die rechtlich einwandfreie Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften dient dem Recht auf Gehör; dies ist vor allem bei Vertagungsanträgen zu beachten (BFH v. 29.04.2010, VII B 159/09, BFH/NV 2011, 300; BFH v. 29.09.2011, IV B 122/09, BFH/NV 2012, 419). Dem Beteiligten obliegt es aber Vertragsansprüche, auch bei Erkrankungen, schlüssig darzutun (BFH v. 07.12.2012 IX B 121/12, BFH/NV 2013, 568). Dazu gehören auch Angaben zur Schwere der Erkrankung. Wird die Terminsverlegung erst kurz vor der mündlichen Verhandlung beantragt, sind die geltend gemachten Gründe mit der Antragstellung glaubhaft zu machen (BFH v. 10.04.2015, III B 42/14, BFH/NV 2015, 1102). Der Anspruch auf Gehör gebietet zudem, dass den Beteiligten nicht nur die Möglichkeit einer Äußerung eingeräumt wird, sondern auch angemessene und hinreichend bestimmte Fristen für die Einlassungen eingeräumt werden (BFH v. 06.02.1992, V R 38/85, BFH/NV 1993, 102; BFH v. 01.01.2005, IX B 44/05, BFH/NV 2005, 2245; BFH v. 07.10.2010, IX B 83/10, BFH/NV 2011, 61). Ist ein Bevollmächtigter bestellt, genügt grundsätzlich die Beteiligung des Bevollmächtigten (BFH v. 27.12.2011, III B 14/10, BFH/NV 2012, 555; BFH v. 05.04.2016, III B 137/15, BFH/NV 2016, 1170) und zwar auch dann, wenn er nur zu dem Termin nicht erscheint (BFH v. 13.12.2012 III B 102/12, BFH/NV 2013, 573). Zu einem Ausnahmefall s. BFH v. 07.03.1995, X R 145/93, BFH/NV 1995, 713. In allen Fallgestaltungen kann das Rügerecht wegen Verletzung rechtlichen Gehörs durch rügelose Verhandlung zur Sache verloren gehen (BFH v. 07.10.2010, IX B 83/10, BFH/NV 2011, 61; BFH v. 23.08.2011, IX B 63/11, BFH/NV 2012, 53; BFH v. 18.07.2013, IX S 15/13, BFH/NV 2013, 1624). Legt der Bevollmächtigte das Mandat kurz vor der mündlichen Verhandlung nieder, kann ein Anspruch auf Vertagung des Termins und Einräumung einer Schriftsatzfrist nur bestehen, wenn die Mandatsniederlegung nicht durch den Kläger verschuldet worden ist (BFH v. 08.11.2013, X B 118/13, BFH/NV 2014, 364).

 

Tz. 5

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Die Entscheidung, ob der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt ist, lässt sich nur anhand der Umstände des Einzelfalls bestimmen: Das FG versagt z. B. das rechtliche Gehör, wenn es vor der vollständigen Ausführung eines Beweisbeschlusses ein Urteil verkündet, ohne die Beteiligten darauf hingewiesen zu haben, dass es die angeordnete Beweisaufnahme (ganz oder teilweise) nicht mehr durchführen werde (BFH v. 06.10.1971, I R 46/69, BStBl II 1972, 20). Die Nichtberücksichtigung eines vor der Beschlussfassung des G...

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