Tz. 1

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Die unterschiedlichen Grundsätze des Besteuerungsverfahrens und des Strafverfahrens erfordern im Fall des Nebeneinanders beider Verfahrensarten eine klare Grenzziehung. Die Rechte und Pflichten der Beteiligten im Besteuerungsverfahren werden durch ein gleichzeitig schwebendes straf- oder bußgeldrechtliches Ermittlungsverfahren nicht berührt. Der weit gespannte Fächer von Erklärungs-, Auskunft- und Einsichtsgewährungspflichten der als Steuerpflichtige in Betracht kommenden Personen bleibt grundsätzlich bestehen. Diese Verpflichtungen dürfen aber nicht dazu führen, dass der Steuerpflichtige genötigt wird, sich in Erfüllung seiner steuerlichen Mitwirkungspflichten selbst einer Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit zu bezichtigen (BVerfG v. 13.01.1981, 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37, 49; zu Art. 6 EMRK s. EGMR – Zweite Sektion – v. 03.05.2001, 31 827/96 J. B./Schweiz, NJW 2002, 499). Mit Rücksicht auf dieses rechtsstaatliche Gebot wird dem Pflichtigen zwar kein Aussageverweigerungsrecht zugestanden, jedoch bestimmt § 393 Abs. 1 Satz 2 AO, dass die Finanzbehörde von den ihr im Besteuerungsverfahren zustehenden Zwangsmitteln (s. § 328ff. AO) insoweit keinen Gebrauch machen darf, als sich der Betroffene damit eines steuerstrafrechtlich relevanten Verhaltens selbst bezichtigen würde. Das gilt immer, wenn gegen den Steuerpflichtigen in dem einschlägigen Sachzusammenhang ein Strafverfahren eingeleitet ist (§ 393 Abs. 1 Satz 3 AO). Der Einsatz von Zwangsmitteln zur Wahrheitsfindung ist dann ohne Weiteres unzulässig, während es mangels der Einleitung eines Strafverfahrens in jedem Fall der Prüfung bedarf, ob durch den Einsatz eines Zwangsmittels zur Ermittlung von Besteuerungsgrundlagen zugleich etwa ein Zwang zur Selbstbezichtigung in strafrechtlicher Hinsicht ausgeübt wird. Hierbei ist von Bedeutung, dass die Schwelle zum strafrechtlichen Anfangsverdacht eher niedrig zu legen ist, um die Beschuldigtenschutzrechte nicht in ihrem Bestand zu gefährden (BVerfG v. 06.02.2002, 2 BvR 1249/01, wistra 2002, 135). Unter diesen Voraussetzungen gilt das Zwangsmittelverbot nicht nur im Strafverfahren, sondern auch im Besteuerungsverfahren. Der BFH vertritt hierzu den Standpunkt, dass es zu einer strafrechtlichen Selbstbezichtigung nicht kommen kann, wenn und solange dem Stpfl. die Möglichkeit der Abgabe einer strafbefreienden Selbstanzeige nach § 371 AO offen steht (BFH v. 01.02.2012, VII B 234/11, BFH/NV 2012, 913).

 

Tz. 2

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Die Grenze zwischen den Befugnissen der Finanzbehörde gegenüber dem Beschuldigten im Besteuerungsverfahren und im straf- oder bußgeldrechtlichen Ermittlungsverfahren verläuft mithin dort, wo es darum geht, das zur Erhärtung des Verdachts einer Steuerverfehlung erforderliche Beweismaterial zu beschaffen, also Spuren einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit zu verfolgen. Das Gesetz verbietet einen "Zwang gegen die Person des Beschuldigten, um Beweismaterial von ihm zu erpressen" (Becker, § 406 AO 1919 Bem. 4). Zur zwangsweisen Beschaffung von Beweismitteln stehen nur die strafprozessuale Durchsuchung (s. §§ 102ff. StPO) und die sich gegebenenfalls anschließende Beschlagnahme (s. §§ 94ff., 111b ff. StPO) zur Verfügung (s. § 399 AO Rz. 7 ff.). Da die Befugnisse im Besteuerungsverfahren und im Strafverfahren bei ein und derselben Behörde zusammenfallen, "setzt die Einhaltung der Grenzen bei den beteiligten Beamten ein hohes Maß von Pflichtgefühl voraus", denn es geht nicht an, "unter dem Vorwand der Steuerermittlung oder der Steueraufsicht Belastungsmaterial zu beschaffen" (Becker,§ 403 AO 1919). Wird einem nach Satz 3 belehrten Stpfl. ein formularmäßiges Erinnerungsschreiben zur Abgabe der Steuererklärung übersandt, liegt darin selbst dann kein Verstoß gegen § 393 Abs. 1 AO, wenn in diesem Formular allgemein auf die Möglichkeit des Einsatzes von Zwangsmitteln hingewiesen wird, ohne diese konkret anzudrohen. Dieses Erinnerungsschreiben stellt keine Ausübung unzulässigen Zwangs dar; der automatisierte Formularversand ist nicht als beabsichtigte Irreführung i. S. des § 136a StPO zu werten (BGH v. 17.03.2005, 5 StR 328/04, NStZ 2005, 517). Zur Bitte der Steuerfahndung an den Beschuldigten, bei der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken, s. BFH v 15.04.2015, VIII R 1/13, wistra 2015, 479.

 

Tz. 3

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Vorsorglich sieht das Gesetz auch eine ausdrückliche Belehrung des Beschuldigten dahin vor, dass ihm im steuerrechtlichen Ermittlungsverfahren zwar kein allgemeines Recht zur Aussageverweigerung zusteht, er jedoch nicht verpflichtet ist, sich einer Steuerverfehlung selbst zu bezichtigen, und dass demgemäß gegen ihn auch keine Zwangsmittel statthaft sind. Die Bedeutung dieser Belehrungspflicht wird in der Gesetzesbegründung besonders betont (s. BT-Drs. 7/4292, 46; s. auch Nr. 3 des Merkblatts des BMF v. 13.11.2013, BStBl I 2013, 1458).

 

Tz. 4

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Die Verwertung erzwungener Aussagen ist im Strafverfahren...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Kühn, Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung (Schäffer-Poeschel). Sie wollen mehr?


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