Steuerkanzleien: Strategische Planung und Neuausrichtung

In turbulenten, von Komplexität und Unsicherheit geprägten Zeiten wie diesen ist es sicher ratsam, die Bearbeitung der Kanzleistrategie nicht alle paar Jahre als Projekt durchzuführen, sondern in einem kontinuierlichen Fokus zu halten und langfristig in den Alltag und das Handeln der Kanzlei zu integrieren.

Das spricht mehr für die Form eines Prozesses als eines Projektes. Im Folgenden wird ein idealtypischer Strategieprozess auf Basis der sogenannten Strategieschleife (R. Nagel) beschrieben. Dieser Prozess bildet die komplette Strategieschleife ab, mit der die Zukunft und Entwicklung der Kanzlei geplant werden kann. Er ist insofern idealtypisch, weil in der Praxis häufig einzelne Teile davon ablaufen. Deshalb ist dieser Prozess auch integrativ für andere Führungs- und Managementprozesse eines Kanzleimanagementsystems zu sehen. Die Zielsetzung dieses Prozesses ist es, dass die Kanzlei ausgehend von einer umfassenden internen und externen Analyse verschiedene Entwicklungsszenarien für die Zukunft entwickelt, eine Entscheidung für die angestrebte Entwicklung trifft und auf Basis dieser Entscheidung die strategische Positionierung vornimmt sowie alle notwendigen Entwicklungsschritte plant und in einen Umsetzungsprozess überführt.

Bewusste strategische Auszeit

Angesichts des wohl in vielen Kanzleien alltagsüblichen Drucks des Tagesgeschäftes, der generellen Prägung des Arbeitsalltages von Steuerberaterinnen und Steuerberatern an durch Besprechung mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Mandantinnen und Mandanten sowie den üblichen unvorhergesehenen und unvermeidbaren Aktivitäten ist es ratsam, die Strategie der Kanzlei in einer bewussten strategischen Auszeit vorzunehmen. Und dabei geht es nicht um eine einmalige Sonderaktion, sondern darum, wichtige strategische Eckpunkte einer regelmäßigen Überprüfung zu unterziehen, damit die Kanzlei auf der Höhe bleibt, auch wenn unvorhergesehene und überraschende Entwicklungen das strategische Umfeld der Kanzlei völlig verändern. Reinhart Nagel hat für diesen umfassenden wie auch regelmäßigen Strategievorgang die sogenannte Strategieschleife entwickelt, die auch für die folgenden Ausführungen die Grundstruktur liefert. 

Der hier vorgeschlagene Strategieprozess, die einzelnen Bestandteile und die angesprochenen Tools sind als idealtypische Vorschläge und als Auswahl die ergänzt werden kann zu sehen. In der Praxis werden sicherlich einzelne Teilbereiche der Strategieschleife in unterschiedlichen Zeitfolgen und unterschiedlicher Intensität bearbeitet werden – das trifft insbesondere auf kleine Kanzleien zu, denen wenig Kapazität auf Führungsebene für Strategiearbeit vorhanden ist. Natürlich ist es sinnvoll, die einzelnen Schritte des Strategieprozesses in der richtigen Reihenfolge zu durchlaufen; dennoch kann es sein, dass sich erst in der Detailplanung wichtige grundlegende Erkenntnisse bilden, auf deren Basis gegebenenfalls die Strategie angepasst wird. Das ist keinesfalls problematisch, sondern eher in der Natur der Sache bedingt.

Strategieschleife

Im ersten Drittel der Strategieschleife, das die Phasen strategischer Optionen sowie Entscheidungen zwischen Strategieoptionen beinhaltet, geht es zunächst darum, dass "Hier und jetzt" der Kanzlei und ihres relevanten Umfelds sowie plausible Annahmen über mögliche zukünftige Entwicklungen wahrzunehmen, zu erkennen und zu analysieren. Dann wird in den wichtigsten Eckpunkten entscheiden, in welche Richtung die Reise der Kanzlei in die Zukunft gehen soll.

Strategische Analyse

Die strategische Analyse dient dem Zweck, den strategischen Handlungsbedarf Ihrer Kanzlei aus verschiedenen Blickwinkeln zu konkretisieren und die eigenen persönlichen Annahmen über Märkte, Mandantinnen und Mandanten, relevante Technologien und Geschäftsmodelle in der Steuerberatung intensiv zu hinterfragen.

Es geht darum, zunächst den Wahrnehmungshorizont zu erweitern – deutlich über die Perspektiven des Tagesgeschäftes hinaus. Drei Blickrichtungen sind für eine gründliche Analyse unabhängig vom Umfang und der Intensität der Nutzung der Analyseinstrumente einzunehmen:

  • Außenperspektiven (Mandantinnen und Mandanten, Wettbewerberinnen und Wettbewerber, Branchendynamik, Marktpotenziale, andere relevante Marktteilnehmerinnen und -teilnehmer)
  • Zukunftsperspektiven (Definition des eigenen Geschäfts, Zukunftsszenarien, Trendanalysen etc.)
  • Binnenperspektiven (Kernkompetenzen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Organisationsanalyse, Analyse des Geschäftsmodells, Stärken/Schwächen, …)

Mit der Analyse sollten die wichtigsten Risiken sowie Chancen, mit denen die Kanzlei in Zukunft konfrontiert wird, sichtbar gemacht werden. Alle am Strategieprozess beteiligten Personen sollten sich darüber intensiv austauschen und ein gemeinsames Verständnis dazu entwickeln. Dieses Bild sollte eine möglichst realistische Darstellung vorhandener Möglichkeiten, Ressourcen sowie der Grenzen des eigenen künftigen Agierens beinhalten.

Die nachfolgend aufgezählten Tools haben sich für die strategische Analyse von Steuerkanzleien bewährt. Die Auswahl stellt eine keineswegs vollständige oder umfassende Liste dar, sondern ist vielmehr eine praxisorientierte Auswahl aus Hunderten von Analysetools, die das strategische Management generell bietet.

Strategischer Screenshot 1: Kanzlei-Diagnoseinterviews aus Sicht des Führungsteams der Kanzlei

2 bis maximal 7 Personen der Kanzlei (von Partner- bis Teamleiterebene) werden aus einem Fragenkatalog von 30-100 Fragen in den Bereichen Führungsteam, Strukturen und Prozesse, Kultur, Führungen, Markt und Umfeld sowie Zukunft in einem persönlichen Gespräch befragt. Die unterschiedlichen Perspektiven der Führungskräfte werden zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammengeführt.

Strategischer Screenshot 2: Interviews mit Schlüsselpersonen des Personals

4 bis 7 repräsentativ ausgewählte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden zu ihrer Arbeitssituation, ihren Entwicklungs- und Karrierechancen sowie ihrem Blick auf die Kanzleiorganisation und Führung befragt. So werden insbesondere "blinde Flecke" des Führungsteams sichtbar bzw. verkleinert, die sich im Arbeitsalltag und durch den Druck des Tagesgeschäftes nicht vermeiden lassen.

Strategischer Screenshot 3: Interviews mit wichtigen Mandanten sowie Geschäftspartnern

5 bis 10 relevante Mandantinnen und Mandanten sowie andere wichtige Geschäftspartnerinnen und -partner – beispielsweise Banken, Verbände, Softwareunternehmen – werden zur Beurteilung ihrer Zusammenarbeit mit der Kanzlei interviewt. Dabei geht es um den Blick von außen auf die Kompetenzen der Kanzlei, die jede/jeder Einzelne aufgrund seiner/ihrer Interessen aus der Zusammenarbeit mit der Kanzlei hat. Das fördert üblicherweise Aspekte zutage, die aus der Innensicht nicht oder nicht so deutlich auftauchen.

Das Ergebnis der Screenshots ist eine qualitative Bestandsaufnahme in Form eines schriftlichen Berichtes, der die aktuelle Situation sowie strategische Handlungsfelder auf den Punkt bringt und mit dem Führungskreis der Kanzlei diskutiert wird.

Kanzlei-Team-Workshop "Postdigitale Perspektiven: Die Entdeckung einer noch nicht vorhandenen Zukunft" 

Nicht allein als Analysetool, sondern auch als Auftakt für eine intensive strategische Initiative, hat sich sowohl für Führungskreise wie auch gesamte Kanzleiteams das von der trinfactory GmbH etablierte Konzept "Postdigitale Perspektiven" bewährt. Wie mit einer mentalen Zeitmaschine wird das Team in eine Zukunft versetzt, in der die digitale Revolution bereits abgeschlossen ist. Aus dieser Zukunft wird der Blick auf die aktuelle Kanzleisituation gerichtet und werden konkrete Handlungsempfehlungen abgeleitet.

Der Nutzen einer wirksamen Ausrichtung auf die Zukunft entsteht dabei durch:

  • das Visualisieren von relevanten Zukunftsszenarien im Kontext digitaler Entwicklungen,
  • das Ableiten konkreter Empfehlungen für die strategische Ausrichtung und den Umgang mit der Digitalisierung,
  • das Stärken des Teams für eine aktive und angemessene Umsetzung digitaler Transformationen,
  • das Steigern der individuellen Sicherheit im Umgang mit den Auswirkungen fortschreitender Digitalisierung.

Szenariotechnik (nach Prof. Minx)

Das Ziel dieser Szenariotechnik ist es, verschiedene mögliche und relevante Zukunftsvarianten zu entwerfen. Bezüglich einer strategischen Fragestellung  – beispielsweise wie der Steuerberatungsmarkt in zehn Jahren geschaffen ist – werden die zwei wichtigsten sowie offenen (d.h. bei ihrem Eintreten mit Unsicherheit behafteten) Faktoren als Grundlage für vier Extremszenarien genommen, in denen diese Faktoren unterschiedlich ausgeprägt sind. Die vier Szenarien werden im Detail ausgearbeitet und miteinander verglichen, um so generelle Rückschlüsse für in Zukunft relevante Entwicklungen zu generieren. 

Weitere relevante Analysetools: 

  • Analyse des aktuellen Kanzleileitbildes aus Perspektive der Inhaberinnen und Inhaber, der Mandantinnen und Mandanten, des Personals sowie anhand betriebswirtschaftlicher Eckpunkte und Kennzahlen
  • schriftliche Mandantenbefragung
  • schriftliche Mitarbeiterbefragung
  • Analyse künftiger Mandantenbedürfnisse mit eigenen Kundenavataren
  • "Strategischer Sehtest"

Teil 3 - Strategische Optionen entwickeln