1 Wesen und Anwendungsbereich der Wiedereinsetzung

1.1 Wesen

 

Rz. 1

Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist die Beseitigung eines durch die Versäumung einer gesetzlichen Frist erwachsenen Rechtsnachteils. Mit ihr sollen die durch die Fristversäumung eintretenden negativen Folgen für denjenigen aufgehoben werden, der an der fristgemäßen Wahrung bzw. Nutzung seiner Rechte unverschuldet gehindert war. Die Vorschrift schränkt damit wie eine Reihe ähnlicher oder fast gleicher Regelungen im Interesse des Grundsatzes der Gerechtigkeit den mit dem Ablauf der Frist an sich gegebenen Vorrang des Grundsatzes der Rechtssicherheit ein. BVerfG v. 5.2.1980, 2 BvR 914/79, BVerfGE 53, 148; BVerfG v. 19.4.1995, 2 BvR 2295/94, HFR 1996, 210 hat zu erkennen gegeben, dass diese Einschränkung des Vorrangs der Rechtssicherheit und damit der Vorzug des Grundsatzes der Gerechtigkeit notfalls durch Auslegung der Vorschrift über die Wiedereinsetzung erweitert werden müsste, wenn nur durch die Wiedereinsetzung der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG Genüge getan werden könne. Praktische Bedeutung hat dies insbesondere bei Verzögerungen bei der Briefbeförderung, die dem Bürger grundsätzlich nicht als Verschulden zugerechnet werden sollen[1]. Allerdings soll in diesem Fall der Stpfl. zum Vortrag konkreter Gründe zur Glaubhaftmachung eines späteren Zugangs unter Abweichung von der üblichen Postlaufzeit verpflichtet sein[2]. Bei außergewöhnlichen Umständen (z. B. Streikmaßnahmen) soll allerdings etwas anderes gelten[3]. Hier soll etwa der Prozessbevollmächtigte bei Absendung des Schriftstücks eine Woche vor Fristablauf verpflichtet sein, sich nach dem rechtzeitigen Eingang zu erkundigen[4].

 

Rz. 1a

Das BVerfG sieht darüber hinaus den gerichtlichen Rechtsschutz gem. Art. 19 Abs. 4 GG als ein hohes Rechtsgut an, das im Fall der Verletzung des rechtlichen Gehörs vor Erlass eines Verwaltungsakts eine Wiedereinsetzung wegen der Versäumung der Frist für die Anfechtung des Verwaltungsakts zu gewähren sei[5]. Dies kann in seltenen Fällen der Verletzung des § 91 AO, aber auch in finanzgerichtlichen Ver­fahren Bedeutung haben, wenn das Gericht einen wesentlichen Vortrag einer Partei vor der Entscheidung der anderen Partei nicht zur Kenntnisnahme zukommen lässt und diese erst nach dem Ablauf der Rechtsmittelfrist hiervon erfährt[6]. Im Übrigen ist der sehr strenge Umgang der Gerichte mit der Frage der Wiedereinsetzung, die die Appelle des BVerfG und die Mahnungen im Schrifttum kaum wahrnehmen[7], bedauerlich. Tipke spricht sogar davon, dass der Anwalt vom Juristen zum Erbsenzähler gemacht wird. Der BGH hat aus diesem Grund in neuerer Rspr. immer wieder darauf hingewiesen, dass die Anforderungen an eine Partei oder deren Vertreter nicht überspannt werden dürfen[8].

 

Rz. 2

Der durch die Wiedereinsetzung zu beseitigende Rechtsnachteil ist die Folge einer unterlassenen oder verspäteten fristgebundenen Prozesshandlung. Durch die Wiedereinsetzung gilt die Prozesshandlung als rechtzeitig vorgenommen und kann daher die durch sie auszulösenden Rechtsfolgen haben. Zu den eingeschränkten Folgen der Wiedereinsetzung nach Versäumung der Frist für den Antrag auf Verlängerung der Revisionsfrist vgl. Rz. 6.

 

Rz. 3

Auf die Wiedereinsetzung besteht beim Vorliegen ihrer Voraussetzungen ein Rechtsanspruch. Die Entscheidung über die Wiedereinsetzung ist also keine Ermessensentscheidung. Daraus folgt, dass bei ihrer Ablehnung eine Überprüfung möglich ist.

[2] BVerfG v. 19.3.1997, 2 BvR 468/97, StE 1997, 251.
[3] BGH v. 25.1.1993, II ZB 18/92, MDR 1993, 577.
[4] BGH v. 25.1.1993, II ZB 18/92, MDR 1993, 577.
[7] Tipke, in Tipke/Kruse, AO, § 56 FGO Rz. 2.

1.2 Anwendungsbereich

 

Rz. 4

Nach Abs. 1 ist Wiedereinsetzung bei der Versäumung gesetzlicher Fristen möglich. Die Vorschrift gilt also für alle gesetzlichen Fristen, die innerhalb des finanzgerichtlichen Verfahrens einzuhalten sein bzw. versäumt werden können. Sie gilt dagegen grundsätzlich nicht für die Versäumung richterlicher Fristen, auch wenn diese Ausschlussfristen sind. Das Gesetz hat in Kenntnis der Überschneidungen der Bereiche der gesetzlichen Fristen und der Ausschlussfristen bewusst nur die gesetzlichen Fristen in den Anwendungsbereich des Rechtsinstituts der Wiedereinsetzung genommen.

Für den Fall der Versäumung einer richterlichen Frist zur Vorlage der Prozessvollmacht[1] sieht daher § 62 Abs. 3 S. 4 FGO für Ausschlussfristen ausdrücklich eine sinngemäße Anwendung des § 56 FGO vor[2], außerdem für die Begrenzung der Beiladung in § 60a S. 7 FGO. Ist ohne Fristsetzung eine Vollmacht bis zur Verkündung des Urteils nicht eingereicht worden, so scheidet mangels Fristversäumung eine Wiedereinsetzu...

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