Rz. 44

Die Neufassung des Abs. 2 Alt. 2 durch das 2. FGOÄndG (Einfügung der Sicherung der Rechtsprechungseinheit als weiterer Zulassungsgrund) hat die Rspr. zum Anlass genommen, ausgehend von der Gesetzesbegründung[1] die Zulassung der Revision über die bisher anerkannten Fälle der grundsätzlichen Bedeutung, der Rechtsfortbildung und der Divergenz hinaus i. S. d. Einzelfallgerechtigkeit auf FG-Urteile auszudehnen, die in dem Maße rechtsfehlerhaft sind, dass sie über den Einzelfall hinaus das allgemeine Interessen berühren. Es handelt sich neben der Divergenz und der Rechtsfortbildung um einen weiteren Unterfall des § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO.[2]

Es muss ein sog. qualifizierter Rechtsanwendungsfehler vorliegen.[3] Das ist dann der Fall, wenn formelle oder auch materiell-rechtliche Rechtsfehler von so erheblichem Gewicht vorliegen, die – würden sie nicht vom BFH behoben – geeignet sind, das Vertrauen der Allgemeinheit in die Rspr. und in die Steuergerechtigkeit zu beschädigen.[4]

Davon ist auszugehen, wenn das FG-Urteil mit einem offensichtlichen Rechtsanwendungsfehler von erheblichem Gewicht i. S. einer willkürlichen oder greifbar gesetzwidrigen Entscheidung behaftet ist.[5] Das FG-Urteil muss objektiv willkürlich erscheinen oder auf sachfremden Erwägungen beruhen und unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar sein.[6] Es muss greifbar gesetzwidrig sein, weil es anerkannte Rechtssätze so eklatant verletzt, dass ein evidentes Fehlurteil vorliegt.

Demnach müssen folgende Voraussetzungen vorliegen[7]:

  • schwerwiegender materieller oder formeller Rechtsanwendungsfehler: Der Fehler muss von erheblichem Gewicht und zudem geeignet sein, wenn er nicht vom BFH korrigiert würde, das Vertrauen in die Rspr. zu beschädigen. Das kann der Fall sein:

    • bei (objektiv) willkürlicher, d. h. nicht nachvollziehbarer Entscheidung, bei der sich der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht.
    • bei (unterhalb der Willkürgrenze) greifbar gesetzwidrigen Entscheidungen, denen jegliche Rechtsgrundlage fehlt und die zu einer Rechtsfolge führen, die ersichtlich vom Gesetz ausgeschlossen sind; bei auf sachfremden Erwägungen beruhenden Urteilen und Entscheidungen, die unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar sind; wenn eine offensichtlich einschlägige entscheidungserhebliche Vorschrift übersehen oder völlig unvertretbar ausgelegt wurde.
  • Offensichtlichkeit (Evidenz) des Rechtsfehlers: Der Fehler muss jedenfalls bei Befassung eines Sachkundigen mit dem Fall klar ersichtlich sein.

Die Rechtfertigung zu dieser gegenüber dem bisherigen Verständnis (Abs. 2 Nr. 2 a. F.) weiteren Auslegung folgt aus der Rechtsentwicklung. Mit der Neufassung (ab 2001; Rz. 1) wurde, wie aus der Begründung des Regierungsentwurfs[8] und dem Bericht des Rechtsausschusses[9] klar ersichtlich ist, das Ziel verfolgt, dem BFH nicht nur im Allgemeininteresse, sondern auch aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit Zugriff auf FG-Entscheidungen zu geben, die mit offensichtlichen Fehlern behaftet sind.[10]

Unterhalb dieser Grenze liegende – wenn auch erhebliche – Rechtsfehler reichen grundsätzlich nicht dafür aus, eine greifbare Gesetzwidrigkeit oder gar eine Willkürentscheidung anzunehmen.[11] Denn die Nichtzulassungsbeschwerde dient nicht dazu, allgemein Fehler in finanzgerichtlichen Entscheidungen zu beheben.[12] Der BFH stellt damit sehr hohe Anforderungen an das Vorliegen eines qualifizierten Rechtsfehlers. In der Praxis kommen solche Fälle kaum vor. Es bleibt abzuwarten, ob der BFH langfristig an dieser strengen Linie festhält. Der Individualrechtsschutz würde es gebieten, die Hürde niedriger zu setzen.

 

Rz. 45

Damit können über die bisherigen (klassischen) Zulassungsgründe (grundsätzliche Bedeutung, Divergenz, Verfahrensmangel) hinaus auch offensichtlich falsch entschiedene Fälle vom BFH im Revisionsverfahren – nach Zulassung aufgrund einer Nichtzulassungsbeschwerde – korrigiert werden. Zu denken ist insbesondere an die Verletzung von Verfahrensgrundrechten. Insofern wird die Bedeutung der früher anerkannten allgemeinen Gegenvorstellung[13] bzw. nunmehr der Anhörungsrüge nach § 133a FGO eingeschränkt. Von einer offensichtlichen Fehlentscheidung wird aber nicht nur dann auszugehen sein, wenn die Unrichtigkeit (für einen Kundigen) auf den ersten Blick evident ist, sondern auch dann, wenn die Fehlerhaftigkeit erst nach eingehender Befassung mit der Sache offenkundig wird.

Darüber hinaus sollten auch die Fälle der Revision zugänglich sein, in denen es bei der rechtlichen oder tatsächlichen Würdigung an einer logisch schlüssig nachvollziehbaren Argumentationskette fehlt.

Bloße Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung reichen jedoch nicht aus; ebenso nicht ein überflüssiger und zu Missverständnissen führender Hinweis in den Entscheidungsgründen.[14]

Wie schwerwiegend ein Rechtsfehler konkret sein muss, um die Zulassung zu rechtfertigen, ist vom BFH noch nicht geklärt. Willkürentscheidungen fallen jedenfalls darunter. Ob auch bei offensi...

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