Rz. 74

Nach § 362 Abs. 2 S. 2 AO gilt für die Geltendmachung der Unwirksamkeit des Einspruchsverzichts § 110 Abs. 3 AO sinngemäß. § 110 Abs. 3 AO bestimmt für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, dass diese nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist nicht mehr beantragt oder die versäumte Handlung nicht mehr nachgeholt werden kann, außer wenn dies vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war. Dementsprechend kann die Unwirksamkeit der Einspruchsrücknahme regelmäßig innerhalb eines Jahres geltend gemacht werden. Streitig ist dabei allerdings, wann die Jahresfrist zu laufen beginnt. Zum Teil wird – unter Verweis auf die an die Entdeckung der Täuschung bzw. den Wegfall der Zwangslage anknüpfende Anfechtungsfrist in § 124 Abs. 2 BGB – der Zeitpunkt der Kenntnis der Unwirksamkeitsgründe als maßgeblich angesehen.[1] Richtigerweise wird aber überwiegend auf den Zeitpunkt der Rücknahmeerklärung abgestellt.[2] Dafür spricht, dass § 110 Abs. 3 AO, auf den § 362 Abs. 2 S. 2 AO ausschließlich verweist – anders als der nicht in Bezug genommene § 110 Abs. 2 AO – gerade nicht auf den "Wegfall des Hindernisses" abstellt, sondern auf das "Ende der versäumten Frist".[3] Zweck der Regelungen über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO ist es, eine Durchbrechung der formellen Bestandskraft für den Fall einer vom Stpfl. unverschuldeten Fristversäumnis zu ermöglichen. Daher ist bei der sinngemäßen Anwendung des § 110 Abs. 3 AO an den für den Eintritt der Bestandskraft maßgeblichen Zeitpunkt anzuknüpfen, im Falle des § 362 AO also den Zeitpunkt der unwirksamen Rücknahme des Einspruchs.[4]

Etwas anderes gilt, wenn die Einspruchsfrist im Zeitpunkt der Einspruchsrücknahme noch nicht abgelaufen ist. In diesem Fall tritt die Bestandskraft erst mit dem Ablauf der Einspruchsfrist ein, sodass die Jahresfrist mit diesem zu laufen beginnt. Wurde in dem Verwaltungsakt eine Rechtsbehelfsbelehrung unrichtig erteilt oder ist sie unterblieben, beginnt die Jahresfrist des § 110 Abs. 3 AO aber m. E. nicht erst mit Ablauf der verlängerten Einspruchsfrist. Beide Jahresfristen verfolgen letztlich den gleichen Zweck, den Rechtsschutz des Stpfl. bei einer durch die Finanzbehörde (mit-) verursachten Fristversäumnis sicherzustellen. Für eine Kumulation beider Fristverlängerungen besteht kein Anlass.

 

Rz. 75

Die Jahresfrist verlängert sich, wenn die Geltendmachung der Unwirksamkeit der Einspruchsrücknahme wegen höherer Gewalt unmöglich gewesen ist. Höhere Gewalt ist ein von außen kommendes, außergewöhnliches Ereignis, das nicht vorhergesehen und daher auch bei Anwendung der äußersten, billigerweise zu erwartenden Sorgfalt von dem Betroffenen nicht verhütet werden konnte (z. B. Krieg, Stillstand der Rechtspflege, Naturereignisse).[5] In diesem Fall ist die Unwirksamkeit der Rücknahme – entsprechend § 110 Abs. 2 AO – innerhalb eines Monats nach dem Wegfall des Hindernisses durch die höhere Gewalt geltend und das Vorliegen der höheren Gewalt glaubhaft zu machen.

[1] Birkenfeld, in HHSp, AO/FGO, § 362 AO Rz. 185; Koenig/Cöster, AO, 4. Aufl. 2021, § 362 Rz. 31.
[2] Sächsisches FG v. 27.1.2003, 3 K 2069/99, Haufe-Index HI1236556; Sächsisches FG v. 13.8.2009, 4 K 2106/04, Haufe-Index HI2216939; AEAO Nr. 2 zu § 362 AO; Werth, in Gosch, AO/FGO, § 362 AO Rz. 24; Brandis, in Tipke/Kruse AO/FGO, § 362 AO Rz. 11; Hardtke, in Kühn/v. Wedelstädt, AO/FGO, 22. Aufl. 2018, § 362 AO Rz. 28; Klein/Rätke, AO, 16. Aufl. 2022, § 362 Rz. 14; Szymczak, in Koch/Scholtz, AO, 5. Aufl. 1996, § 362 AO Rz. 10; Jesse, Einspruch und Klage im Steuerrecht, 4. Aufl. 2017, Rz. 492.
[3] Sächsisches FG v. 27.1.2003, 3 K 2069/99, Haufe-Index HI1236556; Werth, in Gosch, AO/FGO, § 362 AO Rz. 24.

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