1 Grundlagen

1.1 Zur Systematik der Vorschrift

 

Rz. 1

Die Vorschrift fasst die Regelungen zur Anpassung eines Folgebescheids an einen Grundlagenbescheid und die Änderung eines Steuerbescheids bei Eintritt eines Ereignisses mit steuerlicher Rückwirkung in einer Vorschrift zusammen. Diese Fassung des § 175 AO kann aus systematischer Sicht nicht befriedigen. In Abs. 1 werden in S. 1 Nr. 1 und Nr. 2 Änderungstatbestände zusammengefasst, die miteinander nichts zu tun haben und denen jeweils ein anderes gesetzliches Regelungsprinzip zugrunde liegt. Die Vorschrift erweckt in der gegenwärtigen Fassung den Eindruck eines "Auffangbeckens", in dem Änderungsvorschriften zusammengefasst worden sind, die an anderer Stelle nicht untergebracht werden konnten. Darauf deutet auch die Überschrift der Vorschrift hin, nach der "sonstige Fälle" erfasst werden sollen. Diese Überschrift enthält auch die Gefahr einer Irreführung, da § 175 AO nicht einen Auffangtatbestand oder eine abschließende Regelung der "sonstigen Fälle" enthält, sondern zwei sehr spezifische, nicht zu verallgemeinernde Tatbestände.

Diese systematisch unglückliche Zusammenfassung der beiden Tatbestände hat zur Folge, dass, obwohl beide Tatbestände in Abs. 1 S. 1 der Vorschrift zusammengefasst sind, Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 der Vorschrift nur auf den Tatbestand des Abs. 1 S. 1 Nr. 2 und damit nur auf die Fälle der steuerlichen Rückwirkung der Vorschrift anwendbar sind.

Sinnvoller wäre die Regelung in zwei Vorschriften, zumindest aber die Regelung jedes Tatbestands in einem selbstständigen Absatz gewesen.

 

Rz. 2

§ 175 AO ermöglicht für die beiden Tatbestände der Anpassung eines Folgebescheids und der steuerlichen Rückwirkung eines Ereignisses den Erlass, die Aufhebung oder die Änderung eines Steuerbescheids. Für die Fälle des erstmaligen Erlasses eines Steuerbescheids ist die Vorschrift systematisch falsch eingeordnet, da es sich dann nicht um die Durchbrechung der Bestandskraft handelt.

Zu den Begriffen "Aufhebung" und "Änderung" Frotscher, in Schwarz/Pahlke/Keß, AO/FGO, § 173 AO Rz. 16.

1.2 Rechtsentwicklung

 

Rz. 2a

§ 175 AO wurde durch die AO 1977 eingeführt.[1]

Durch Gesetz v. 21.12.1993[2] wurde bestimmt, dass die Formulierung des Abs. 1 Nr. 2 eine Legaldefinition für den Begriff des rückwirkenden Ereignisses ist, und Abs. 2 angefügt.

Durch Gesetz v. 9.12.2004[3] wurde in Abs. 2 eine Regelung eingefügt, dass die nachträgliche Erteilung oder Vorlage einer Bescheinigung oder Bestätigung kein rückwirkendes Ereignis ist.

Durch Gesetz v. 18.7.2016[4] wurde die Überschrift der Vorschrift neu gefasst.

[1] G. v. 16.3.1976, BStBl I 1976, 157.
[2] BStBl I 1994, 50.
[3] BStBl I 2004, 1158.
[4] BStBl I 2016, 694

2 Folgeänderung (Abs. 1 S. 1 Nr. 1)

2.1 Allgemeines

2.1.1 Systematische Stellung

 

Rz. 3

§ 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO erfasst Fälle, in denen ein Steuerbescheid (der Folgebescheid) von dem Regelungsgehalt eines anderen Steuerbescheids (des Grundlagenbescheids) abhängig ist und daher, wenn der Regelungsgehalt des Grundlagenbescheids geändert wird, angepasst werden muss. Der Regelungszweck der Vorschrift liegt darin, die Umsetzung des Inhalts des Grundlagenbescheids in den Folgebescheid sicherzustellen. Die Vorschrift ist daher immer dann anwendbar, wenn ein Folgebescheid den Inhalt des Grundlagenbescheids nicht richtig widerspiegelt. Der materiellen Richtigkeit des Folgebescheids wird Vorrang vor einer etwaigen Bestandskraft eingeräumt.

§ 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO regelt das Verhältnis zweier Bescheide zueinander, aber nur die Fälle, in denen diese beiden Bescheide nach dem Gesetz aufeinander aufbauen, also in dem Verhältnis von Grundlagen- und Folgebescheid zueinander stehen (Rz. 11). Eine Beziehung zwischen zwei Steuerbescheiden, die nicht ein solches Verhältnis darstellt, fällt nicht unter § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO.[1]

 

Rz. 4

Nach der Legaldefinition des § 171 Abs. 10 AO liegt ein Grundlagenbescheid vor, wenn dieser Bescheid für die Festsetzung einer Steuer bindend ist. Bindend kann ein Bescheid nur sein, soweit sein Inhalt selbst bindend im Regelungsbereich des Bescheids festgestellt ist; der nicht bindend festgesetzte Inhalt eines Bescheids, insbesondere die Begründung, kann grundsätzlich nicht für einen anderen Bescheid bindend sein.[2] § 175 Abs. 2 AO enthält diesen Grundsätzen entsprechend mittelbar die Regelung, dass die Feststellung von Besteuerungsgrundlagen eines Steuerbescheids grundsätzlich nicht bindend und daher nicht selbständig anfechtbar ist. Bindend und der Bestandskraft fähig ist nur der Ausspruch über die Höhe der Steuer, die sich aus den Besteuerungsgrundlagen ergibt. Anfechtbar ist daher nur diese Höhe der Steuer, wobei die Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen inzident geprüft wird. Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn aufgrund einer besonderen gesetzlichen Vorschrift Besteuerungsgrundlagen gesondert, und damit selbständig und der Bestandskraft fähig, festgestellt werden (Grundlagenbescheid). Bindend ist daher der Inhalt eines Bescheids nur, soweit dieser Inhalt zum Regelungsbereich des Bescheids gehört, also zu dem der Bestandskraft fähigen Ausspruch über die Rechtsfolge. Besteuerungsgrundlagen gehören nur in ...

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