1 Allgemeines

 

Rz. 1

Die Vorschrift ist Ausdruck des grundgesetzlich garantierten Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG sowie § 96 Abs. 2 FGO[1] und hat somit als spezielle Ausprägung des Rechts auf Gehör lediglich klarstellende Bedeutung.[2] Der Anspruch auf rechtliches Gehör besteht im Wesentlichen darin, dass den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten (Rz. 5) Gelegenheit gegeben werden muss, sich zu den (entscheidungserheblichen) tatsächlichen und rechtlichen Fragen sowie einem etwaigen Beweisergebnis, die der gerichtlichen Entscheidung zu Grunde gelegt werden sollen, vorher zu äußern.[3] Dies setzt umgekehrt voraus, dass die Verfahrensbeteiligten von der Finanzbehörde und dem FG soweit zu informieren sind, dass sie sachgerecht ihre Ansichten vortragen und ihre Rechte wahrnehmen können. Daher schreibt § 75 FGO vor, dass den Beteiligten – soweit es noch nicht geschehen ist – die Unterlagen der Besteuerung auf Antrag oder, wenn der Inhalt der Klageschrift dazu Anlass gibt, von Amts wegen mitzuteilen sind. Durch die Mitteilung der Besteuerungsunterlagen sollen vor allem Überraschungsentscheidungen vermieden werden.[4]

 

Rz. 2

Allerdings hat die Vorschrift des § 75 FGO nicht den Zweck, den Verfahrensbeteiligten in Verfahren mit komplexen Sachverhalten, wie insbesondere nach Fahndungs- und Betriebsprüfungen, die ergänzende Akteneinsicht nach § 78 FGO zu ersparen. Nach dem Grundsatz der Prozessverantwortung ist es den Verfahrensbeteiligten daher grundsätzlich zumutbar, durch Akteneinsicht nach § 78 FGO Einsicht in etwaige vorhandene weitere Beweismittel zu nehmen und sich ggf. gem. § 78 Abs. 2 FGO Abschriften erteilen zu lassen. Die Pflicht der Finanzbehörde und des FG nach § 75 FGO erschöpft sich darin, den Verfahrensbeteiligten die Kenntnis zu verschaffen, wogegen sie sich verteidigen sollen.[5] Daher spielt § 75 FGO in der gerichtlichen Praxis kaum eine Rolle.

2 Rechtspflicht zur Mitteilung der Besteuerungsunterlagen

 

Rz. 3

§ 75 FGO begründet für das FG die Rechtspflicht zur Mitteilung der Besteuerungsunterlagen, gilt gleichermaßen für alle gerichtlichen Verfahrensarten[1] – einschließlich des vorläufigen Rechtsschutzes sowie für Haftungs-, Erstattungs- und Vergütungsansprüche – und bildet das Gegenstück zur Bestimmung des § 364 AO im außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren. Auch für die Finanzbehörde besteht eine identische Verpflichtung zur Offenlegung der Besteuerungsunterlagen. Daher muss das FG selbst nur dann den Beteiligten (Rz. 5) die Besteuerungsunterlagen mitteilen, wenn dies im vorhergehenden außergerichtlichen Verfahren unterblieben ist. Eine von der Finanzbehörde unterlassene Offenlegung der Besteuerungsunterlagen stellt zwar ebenfalls einen Verstoß gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs dar, wird aber durch eine umfassende Nachholung durch das FG geheilt.[2]

 

Rz. 4

Gleichwohl handelt es sich bei einem Verstoß gegen § 364 AO um einen schweren Verfahrensfehler, der dazu führen kann, dass das FG nach § 100 Abs. 3 FGO (ggf. auch bereits nach § 100 Abs. 1 S. 1 FGO) die angefochtene Einspruchsentscheidung aufhebt und an die Finanzbehörde zurückverweist, ohne in der Sache selbst zu entscheiden.[3] Eine isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung dürfte regelmäßig auch dem Interesse des Klägers entsprechen, der sodann im gebührenfreien Einspruchsverfahren zu den ihm mitzuteilenden Besteuerungsunterlagen Stellung nehmen kann.[4] Eine isolierte Aufhebung nach § 100 Abs. 1 S. 1 FGO durch das FG kommt allerdings dann nicht in Betracht, wenn der Kläger vor dem FG über die Aufhebung der Einspruchsentscheidung hinaus eine materiell-rechtliche Entscheidung in der Sache beantragt.[5] Sofern die Finanzbehörde seiner Pflicht zur Mitteilung der Besteuerungsunterlagen nicht nachkommt, rechtfertigt dies auch bereits eine gerichtliche Aussetzung der Vollziehung, weil Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts auch dann bestehen, wenn das Einspruchsverfahren zwar an einem noch heilbaren Verfahrensmangel leidet, aber die Möglichkeit besteht, dass dieser sich in einer formell rechtswidrigen Einspruchsentscheidung manifestiert.[6]

 

Rz. 5

Als Beteiligte i. S. des § 75 FGO haben alle diejenigen Anspruch auf die Mitteilung der Besteuerungsunterlagen, die gem. § 57 FGO Beteiligte des gerichtlichen Verfahrens sind. Neben dem beklagten Finanzamt – dessen Kenntnis der Besteuerungsunterlagen im Regelfall aber vorausgesetzt werden kann – und dem Kläger, umfasst die Mitteilungspflicht auch den förmlich Beigeladenen. Der Mitteilung der Besteuerungsunterlagen an den Beigeladenen steht das Steuergeheimnis gem. § 30 Abs. 4 Nr. 1 AO nicht entgegen.[7] Hinsichtlich des Beige...

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