Rz. 30

Die Aussetzung eines Verfahrens kann grundsätzlich nicht damit gerechtfertigt werden, dass in einem Parallelverfahren oder in einem beim BFH anhängigen Verfahren nur dieselbe Rechtsfrage streitig ist.[1] Obgleich vermeintliche oder tatsächliche Musterprozesse beim BFH zwar rechtstatsächlich Einfluss auf finanzgerichtliche Klageverfahren nehmen, sind sie nicht rechtlich vorgreiflich i. S. d. § 74 FGO, weil die Entscheidungen der FG und des BFH immer nur Bindungswirkung zwischen den Beteiligten auslösen.[2] Nichtsdestotrotz können die Beteiligten insoweit das Verfahren aber nach § 155 S. 1 FGO i. V. m. § 251 ZPO zum Ruhen bringen.[3]

 

Rz. 31

Die Entscheidungen des BVerfG sind demgegenüber aber gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG für die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie für alle Gerichte und Behörden bindend. Insbesondere eine Entscheidung des BVerfG aufgrund einer Verfassungsbeschwerde i. S. d. § 13 Nr. 8a BVerfGG oder einer Normenkontrolle i. S. d. § 13 Nr. 11 BVerfGG kann gem. § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft erlangen.[4] Eine Verfahrensaussetzung kann daher geboten sein, wenn vor dem BVerfG bereits ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm aufgrund einer Richtervorlage oder einer Verfassungsbeschwerde anhängig ist, zahlreiche Parallelverfahren vorliegen und keiner der Verfahrensbeteiligten ein besonderes berechtigtes Interesse an einer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung trotz des beim BVerfG anhängigen Verfahrens hat.[5] Eine Aussetzung wegen eines vor dem BVerfG anhängigen Musterverfahrens ist aber nur dann gerechtfertigt, wenn das Musterverfahren und das Klageverfahren hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Streitfrage im Wesentlichen gleich gelagert sind.[6] Ein berechtigtes Interesse an einer Entscheidung des FG trotz gleich gelagerter Streitfrage besteht z. B. in den Fällen, in denen ein Beteiligter die Absicht hat, beim BVerfG zusätzlich neue Gesichtspunkte vorzutragen oder erstmals eine Entscheidung des BFH über eine Streitfrage herbeizuführen.[7] Eine Aussetzung kommt ebenfalls nicht in Betracht, wenn die Rechtsfrage von einem Vorläufigkeitsvermerk i. S. d. § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AO umfasst ist.[8] Es sei denn, dass das FA erst im Klageverfahren den angefochtenen Bescheid wegen der durch die Klage aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Streitpunkte für vorläufig erklärt hat.[9] Die Aussetzung ist regelmäßig auch zweckmäßig, wenn das FA die Vorläufigkeitserklärung trotz gegenteiliger Verwaltungsanweisung abgelehnt hat.[10]

 

Rz. 32

Über den Wortlaut des § 74 FGO hinaus ist ein Verfahren ebenso auszusetzen, wenn das BVerfG bereits über diese Rechtsfrage entschieden hat und dem Gesetzgeber wegen Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit dem GG eine gesetzliche Neuregelung aufgegeben hat.[11] Eine Aussetzung kommt insoweit aber folgerichtig nicht mehr in Betracht, wenn das BVerfG mit der Unvereinbarkeitserklärung die Weitergeltung des verfassungswidrigen Gesetzes im streitigen Zeitraum oder bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber angeordnet hat[12] oder wenn in dem beim BVerfG anhängigen Verfahren nur eine solche Entscheidung zu erwarten ist.[13] Letzteres ist wegen der insoweit erforderlichen Prognoseentscheidung über eine Entscheidung des BVerfG abzulehnen.[14]

 

Rz. 33

Eine Aussetzung des Verfahrens wegen der Anhängigkeit derselben Rechtsfrage beim EGMR kommt grundsätzlich nicht in Betracht, denn die Entscheidungsbefugnis des EGMR reicht nicht so weit wie die des BVerfG.[15]

 

Rz. 34

Ein finanzgerichtliches Verfahren, in dem Rechtsfragen zu beantworten sind, die dem EuGH zur Vorentscheidung vorliegen, darf gem. § 74 FGO ausgesetzt werden.[16] Denn der EuGH entscheidet im Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV über die Auslegung des Sekundärrechts verbindlich für die FG und Finanzbehörden der Mitgliedstaaten. Daher dient die Aussetzung eines finanzgerichtlichen Verfahrens insoweit der mit § 75 FGO bezweckten Verfahrensökonomie und vermeidet eine zusätzliche Vorlage der Rechtsfrage beim EuGH.[17] Allerdings muss das FG zuerst diejenigen Tatsachen feststellen, die erkennen lassen, dass die zu erwartende Entscheidung des EuGH für das Ergebnis im ausgesetzten Verfahren bindend sein könnte.[18] Außerdem muss die Entscheidung in dem auszusetzenden Verfahren von der Entscheidung des EuGH über die bei ihm anhängige Rechtsfrage in entscheidungserheblicher Weise abhängen.[19] Darüber hinaus reicht es für eine Aussetzung aber nicht aus, dass dem EuGH in einem Vorabentscheidungsersuchen eine den Rechtsstreit berührende Rechtsfrage vorgelegt worden ist. Vielmehr muss das Vorabentscheidungsverfahren mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zur Klärung von bisher ungeklärten Rechtsfragen führen. Dies ist regelmäßig nicht anzunehmen, wenn die vorgelegte Rechtsfrage bereits durch die EuGH-Rechtsprechung beantwortet ist.[20] Zeichnet sich aber aufgrund einer EuGH-Vorlage die ernsthafte Möglichkeit einer Rechtsprechun...

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