Rz. 47

Stützt der Revisionskläger die Revision ausschließlich auf Verfahrensmängel (Verfahrensrevision) oder entsprechen die daneben erhobenen materiell-rechtlichen Rügen nicht den Zulässigkeitsanforderungen, hat der BFH nur über die Verfahrensmängel zu entscheiden.[1] Die Prüfung beschränkt sich auf die geltend gemachten Verfahrensmängel. Der BFH hat nicht zu untersuchen, ob daneben weitere – nicht gerügte – Verfahrensmängel vorliegen.

Über materielles Recht wird dann nur entschieden, wenn zugleich ein Fall grundsätzlicher Bedeutung[2] oder die Voraussetzungen der Rechtsfortbildung bzw. der Sicherung der Rechtsprechungseinheit[3] vorliegen.[4] Liegen diese Voraussetzungen, die der BFH von Amts wegen prüft, nicht vor, muss, wenn die Verfahrensrüge durchgreift, grundsätzlich die Vorentscheidung ohne Entscheidung über die materiell-rechtliche Frage aufgehoben und die Sache zurückverwiesen werden.[5]

Eine Zurückverweisung scheidet nach § 126 Abs. 4 FGO allerdings aus, wenn sich das Urteil aus anderen Gründen als richtig erweist. Bei der Prüfung der Ergebnisrichtigkeit ist der BFH nicht an die Beschränkung des § 118 Abs. 3 S. 1 FGO gebunden.[6] Das bedeutet, dass der BFH, auch wenn ausschließlich Verfahrensrügen erhoben wurden, gleichwohl prüfen kann, ob das FG-Urteil im Ergebnis aus materiell-rechtlichen Gründen im Ergebnis zutreffend ist. Ebenso kann – trotz der Kausalitätsvermutung des § 119 Nr. 3 FGO – im Falle einer Gehörsverletzung nach § 126 Abs. 4 FGO verfahren werden, wenn dieser Verfahrensmangel nur einzelne Feststellungen betrifft, auf die es aus der Sicht der Revisionsinstanz unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ankommt.[7]

Nur wenn die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 1 bzw. 2 FGO gegeben sind, ist das FG-Urteil auf eine reine Verfahrensrüge auch in materiell-rechtlicher Hinsicht voll umfänglich zu überprüfen. Die Revision hat somit keinen Erfolg, wenn ausschließlich Verfahrensfehler gerügt werden und diese entweder nicht vorliegen oder nicht ordnungsgemäß gerügt werden, sofern nicht die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 1 bzw. Nr. 2 FGO vorliegen. Das gilt selbst dann, wenn das FG-Urteil nach Auffassung des BFH gegen materielles Recht verstößt.

Der Revisionskläger kann daher den Prüfungsumfang durch Erhebung materiell-rechtlicher Rügen erweitern. Dies dürfte sich regelmäßig empfehlen. Die Rüge muss allerdings den Begründungsanforderungen des § 120 Abs. 3 FGO genügen.[8] Bloße formelhafte Wendungen, hilfsweise oder vorsorglich werde auch die Verletzung materiellen Rechts gerügt, reichen nicht.[9]

Erhebt der Revisionsbeklagte Gegenrügen, wird die Prüfungsbefugnis des BFH entsprechend erweitert.[10]

Die Verfahrensrevision setzt voraus, dass ein formeller Mangel entsprechend den Begründungsanforderungen nach § 120 Abs. 3 Nr. 2 FGO in zulässiger Weise schlüssig geltend gemacht wird. Die vorgetragenen Tatsachen müssen einen Verfahrensmangel erkennen lassen. Nicht oder nicht ordnungsgemäß gerügte Verfahrensmängel darf der BFH nicht berücksichtigen, es sei denn, er steht mit einem ordnungsgemäß gerügten anderen Verfahrensmangel in unlösbarem Zusammenhang.[11] Ob auch eine Verfahrensfrage, wenn für sie ein Grund i. S. v. § 115 Abs. 2 Nr. 1, 2 FGO vorliegt, ohne Rüge vom BFH geprüft werden kann, ist str. (s. Rz. 48).

Wird mit der Revision neben Verfahrensfehlern auch die Verletzung materiellen Rechts gerügt, hat der BFH das FG-Urteil in vollem Umfang auf die Verletzung revisiblen Rechts zu prüfen, ohne an die vorgebrachten Revisionsgründe gebunden zu sein.[12] Ist das FG-Urteil bereits aus materiell-rechtlichen Gründen aufzuheben, kann offen bleiben, ob daneben auch die gerügten Verfahrensfehler vorliegen.[13]

Zum Begriff des Verfahrensmangels s. Dürr, in Schwarz/Pahlke/Keß, AO/FGO, § 115 FGO Rz. 46ff., zum Verlust des Rügerechts s. Dürr, in Schwarz/Pahlke/Keß, AO/FGO, § 115 FGO Rz. 58ff.

 

Rz. 48

Ausnahmsweise sind auch nicht bzw. nicht ordnungsgemäß gerügte Verfahrensfehler vom BFH (von Amts wegen) zu prüfen:

  • Fehler, die mit den Sachentscheidungsvoraussetzungen (Zulässigkeitsvoraussetzungen) des finanzgerichtlichen Verfahrens zusammenhängen[14];
  • Zulässigkeitsvoraussetzungen der Revision.[15] Statthaftigkeit, Form, Frist, Vollmacht, Revisionsbegründung usw. (Rz. 37);
  • Verstöße gegen die Grundordnung des Verfahrens[16], d. h. gegen rechtsstaatliche Grundsätze, z. B. Entscheidung über nicht erhobene Klage[17]; unterlassene notwendige Beiladung[18]; Nichtaussetzung des Verfahrens[19]; Überschreiten des Klagebegehrens[20]; Erlass zweier Endurteile[21]; Berücksichtigung eines verbleibenden Verlustabzugs, ohne dass dieser gesondert festgestellt worden ist[22]; Nichtbeiziehung der Streitakten[23]; dem Urteil lässt sich wegen unklarer Tenorierung keine eindeutige Entscheidung entnehmen[24];
  • Verfahrensmängel, die mit dem gerügten Verfahrensmangel (oder einem ordnungsgemäß gerügten materiell-rechtlichen Fehler) in unlösbarem Zusammenhang stehen[25];
  • Mängel, die die Wiederaufnahme des Verfahrens[26] rechtfertigen (Rz. 40);
  • ...

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