1 Allgemeines

 

Rz. 1

Für das Gerichtsverfahren wird das Recht auf Gehör ausdrücklich durch Art. 103 Abs. 1 GG garantiert. Es gilt als ein aus dem Rechtsstaatsprinzip[1] herzuleitender allgemeiner Rechtsgrundsatz aber auch für das allgemeine Verwaltungsverfahren[2] und das Besteuerungsverfahren.[3] Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs beinhaltet das wichtigste Recht des Beteiligten im Verfahren.[4] Er ist Ausdruck des Grundgedankens, dass der Einzelne immer als Person (Verfahrenssubjekt) und nicht als bloßes Objekt staatlichen Handelns gesehen werden soll.[5] Dem Charakter eines Massenverfahrens gerecht werdend finden sich aber Grenzen des rechtlichen Gehörs, um der Funkionsfähigkeit insbesondere des Veranlagungsverfahrens Rechnung zu tragen.

 

Rz. 2

Durch des Anhörungsrecht wird der Beteiligte in die Lage versetzt, seine Rechte im Verfahren sachdienlich geltend zu machen und sich hinsichtlich seiner tatsächlichen Einlassungen, deren Vollständigkeit und Richtigkeit er insbesondere im Steuererklärungsverfahren nach bestem Wissen und Gewissen zu versichern hat[6], vor Erlass eines ihn belastenden Verwaltungsakts zu erklären. Daneben soll die Anhörung der Verfahrensökonomie dienen, indem vermieden wird, dass die Finanzbehörden infolge eines Irrtums über den zugrunde liegenden Sachverhalt Fehlentscheidungen treffen. Denn zumeist münden solche Fälle in einem Rechtsbehelfsverfahren, dessen Durchführung letztlich doch einen wesentlich höheren Arbeits- und Zeitaufwand als eine Anhörung verursacht. Im Schrifttum wird dennoch kritisiert, dass die Finanzbehörden aus Sorge vor einer Verzögerung des Veranlagungsverfahrens und der Folgenlosigkeit einer Verletzung (vgl. Rz. 38ff.) dem Anhörungsrecht nicht genügend Beachtung schenken.[7]

 

Rz. 3

§ 91 Abs. 1 AO normiert die für den Regelfall bestehende Verpflichtung der Finanzbehörde, die Beteiligten vor Erlass eines belastenden Verwaltungsakts anzuhören (vgl. Rz. 5ff.), Abs. 2 räumt der Finanzbehörde die Möglichkeit ein, in bestimmten Situationen ausnahmsweise von einer Anhörung abzusehen (vgl. Rz. 29ff.). Schließlich sieht § 91 Abs. 3 AO ein Anhörungsverbot vor (vgl. Rz. 37).

 

Rz. 4

Die Vorschrift gilt in allen steuerlichen Verwaltungsverfahren. Sie wird durch besondere Regelungen für das Außenprüfungs-[8] und Rechtsbehelfsverfahren[9] ergänzt. Im Steuerstraf-[10] und Bußgeldverfahren[11] gelten die StPO und das OWiG. § 91 AO kommt nicht zur Anwendung. Auch spezielle Regelungen in den Einzelsteuergesetzen[12] sind vorrangig. Gem. § 117 Abs. 4 S. 3 AO gilt § 91 AO für den inländischen Beteiligten bei der zwischenstaatlichen Rechts- und Amtshilfe durch deutsche Finanzbehörden entsprechend.[13]

[4] BFH v. 6.12.1978, VII R 98/77, BStBl II 1979, 170; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 23. Aufl. 2022, § 28 VwVfG Rz. 1; Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 91 AO Rz. 1; Roser, in Gosch, AO/FGO, § 91 AO Rz. 1; Carl/Klos, INF 1995, 417; Söhn, in HHSp, AO/FGO, § 91 AO Rz. 7 m. w. N.
[7] Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 91 AO Rz. 3; Söhn, in HHSp, AO/FGO, § 91 AO Rz. 22; Horn, INF 1985, 124; Carl/Klos, INF 1995, 417.
[12] Z. B. § 27b UStG, unangekündigte Umsatzsteuer-Nachschau.
[13] Ausführlich hierzu Carl/Klos, INF 1995, 456; BMF v. 25.5.2012, IV B 6 – S 1320/07/10004:006, Merkblatt zur zwischenstaatlichen Amtshilfe durch Informationsaustausch in Steuersachen, BStBl I 2012, 599.

2 Recht auf Anhörung (§ 91 Abs. 1 AO)

2.1 Sollvorschrift

 

Rz. 5

§ 28 Abs. 1 VwVfG gewährt das rechtliche Gehör als verfahrensrechtlichen Anspruch ("ist"). Für das Besteuerungsverfahren sieht § 91 Abs. 1 S. 1 AO hingegen nur eine Sollvorschrift vor. Die Finanzbehörde "soll" dem Beteiligten vor Erlass eines belastenden Verwaltungsakts die Gelegenheit geben, sich zu den entscheidungserheblichen Tatsachen zu äußern. Es steht im pflichtgemäßen Ermessen[1] der Finanzbehörde, ob sie den Beteiligten anhört.[2] Der Finanzbehörde wird also keine strikte Verpflichtung zur Gewährung rechtlichen Gehörs auferlegt. Sollvorschriften räumen der Verwaltung allerdings nur ein stark eingeschränktes Ermessen ein (vgl. § 5 Rz. 16). Die Finanzbehörde darf nur in atypischen Ausnahmefällen von der für alle typischen Fälle angeordneten Rechtsfolge abweichen.[3] Im Regelfall reduziert sich das Ermessen deshalb auf Null[4], sodass im Ergebnis kein Unterschied zwischen § 91 Abs. 1 AO und § 28 Abs. 1 VwVfG besteht.

[2] Koenig/Hahlweg, AO, 4. Aufl. 2021, § 91 Rz. 19; Wagner, in Kühn/v. Wedelstädt, AO/FGO, 22. Aufl. 2018, § 91 AO Rz. 3; Roser, in Gosch, AO/FGO, § 91 AO Rz. 8.
[3] Carl/Klos, INF 1995, 417; Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 91 AO Rz. 2; Helsper, in Koch/Scholtz, AO, 5. Aufl. 1996, § 91 AO Rz. 5; Klein/Rätke, AO, 16. Aufl. 2022, § 91 Rz. 2; Söhn, in HHSp, AO/FGO, § 91 AO Rz. 44 m. w. N.
[4] Roser, in Gosch, AO/FGO, § 91 AO Rz. 2.

2.2 Berechtigte

 

Rz. 6

Das Recht auf Gehör wird nur Beteiligten[1] eingerä...

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