Rz. 1

Untypisch für die Abgabenordnung, in der für beide Seiten des Besteuerungsverfahrens gleichermaßen geltende Verfahrensregeln normiert sind, enthält § 85 AO die allgemeingültigen Prinzipien für die Festsetzung und Erhebung der Abgaben, die allein einen Sicherstellungsauftrag für die Finanzbehörden erteilt. Hierbei lassen sich beide Prinzipien unmittelbar aus der Verfassung ableiten: Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Steuerfestsetzung ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG und das Prinzip der Gleichmäßigkeit aus dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG.[1] Damit handelt es sich eher um eine Aufgabennorm ohne unmittelbare Auswirkungen auf das Besteuerungsverfahren[2], die die Leitlinien für die Festsetzung und Erhebung darstellt. Immer stärker aufkommend und die zuerst genannten Prinzipien einschränkend, wenn gleich auch noch nicht ausdrücklich in § 85 AO erwähnt, tritt zudem das Prinzip der Wirtschaftlichkeit in den Vordergrund[3], wobei dieses Prinzip vorerst nur bei der Ermittlung des steuerlichen Sachverhalts, nicht aber im übrigen Verfahrensrecht Niederschlag findet. § 85 S. 1 AO enthält die Leitlinien für die nach Art. 108 GG in die Hände der Länder gelegte Verwaltungshoheit für die Steuerarten der Auftragsverwaltung. Eine Eingriffsbefugnis zugunsten der Länder enthält § 85 AO nicht, sondern findet sich in den nachfolgenden Paragrafen.[4] Die Vorschrift befasst sich grundsätzlich nur mit inländischen Steuern. Die Verpflichtung zur Verwaltung von ausländischen Steuern kann sich aber aus einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung ergeben.[5]

 

Rz. 2

Ausfluss des Gesetzmäßigkeitsgrundsatzes ist die Pflicht, die entstandenen Steuern festzusetzen und zu erheben. Hieraus folgt, dass Abgaben nur nach Maßgabe der Steuergesetze erhoben werden dürfen, mithin eine Steuerfestsetzung ohne rechtliche Grundlage unzulässig ist.[6] Zugleich darf auf die Festsetzung einer nach Maßgabe der Steuergesetze entstandenen Steuer nicht verzichtet werden, bzw. der gesetzmäßige Steuerbetrag unterschritten werden. Das im Zivilrecht bekannte Institut des Vergleichs ist daher im Steuerrecht nicht zulässig. Hiervon zu unterscheiden ist indes das Institut der tatsächlichen Verständigung über den der Besteuerung zugrunde zu legenden Sachverhalt, wenn der Aufwand zur Ermittlung des tatsächlichen Sachverhalts außer Verhältnis zum zu erwartenden Steuerertrag steht (z. B. eine hohe Anzahl von Vorgängen, die jeder für sich auf seine steuerliche Relevanz zu prüfen ist, aber jeder für sich nur eine geringe steuerliche Auswirkung hat). Liegen gesetzlich normierte Billigkeitsgründe vor, ist es zulässig, die Steuern abweichend vom Gesetzesbefehl festzusetzen[7], die Erhebung der Steuer auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben[8] oder die Steuer teilweise oder ganz zu erlassen[9], wenn besondere, in der Steuerentstehung oder der Person des Stpfl. begründete Umstände vorliegen, die den Vollzug der Steuergesetze als unbillig erscheinen lassen.

Die Legitimität des Gesetzesbefehls wird allerdings durch die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens in Frage gestellt, wenn zur Beachtung des Einzelzwangsvollstreckungsverbots des § 80 InsO die gesetzlich vorgesehene Titulierung des Steueranspruchs nicht länger zugelassen ist. In diesem Fall wird der Sicherstellungsauftrag durch das Tabellenverfahren nach Maßgabe des § 174 InsO ersetzt, bzw. die unter Beachtung des Gesetzesbefehls vereinnahmten Steuern durch nachträgliche Ächtung dieses Erhebungsbefehls mit der Folge als unzulässig angesehen, dass die vereinnahmten Beträge im Wege der Anfechtung nach §§ 129ff. InsO herauszugeben sind. Hier wird deutlich, dass die InsO unzureichend auf den Erhebungsauftrag öffentlich-rechtlicher Gläubiger abgestimmt ist, behandelt sie doch zivilrechtliche und öffentlich-rechtliche Gläubiger hinsichtlich der Befugnis, über den Anspruch disponieren zu können, gleich. Entsprechendes gilt für die nach Ende der Wohlverhaltensperiode auf Antrag des Schuldners zu gewährende Restschuldbefreiung nach § 300 Abs. 1 InsO. Obgleich die hierdurch eintretende Erlöschenswirkung nicht zu den abschließend in § 47 AO enthaltenen Fällen zählt, erwartet die InsO gleichwohl, dass dieser Steueranspruch nicht weiter verfolgt wird. Diese Normenkonkurrenz ist ebenfalls zugunsten der InsO und dem dort geregelten Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung zu lösen, so dass der immerhin aus der Verfassung abzuleitende Gesetzmäßigkeitsgrundsatz zurückzustehen hat.

 

Rz. 3

Neben den im Rahmen des Besteuerungsverfahrens zu beachtenden Maßgaben an die Finanzbehörden enthält § 85 AO unausgesprochen die Maßgabe an den Gesetzgeber, die Steuergesetze vollziehbar auszugestalten. So besagt das Reziprozitätsprinzip, dass die Herbeiführung der Gleichmäßigkeit der Besteuerung im Gesetz angelegt sein muss. So muss der normativen Gleichheit im Gesetz auch stets die strukturelle Gleichheit im Gesetzesvollzug entsprechen.[10] Neben der Gleichheit in der Normensetzung muss siche...

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