1 Allgemeines

1.1 Allgemeines zum Wohnsitz im Steuerrecht und sonstigen Recht

 

Rz. 1

Die Vorschrift enthält die Begriffsbestimmung für den Wohnsitz. Dieser Begriff gilt für das gesamte Steuerrecht, auch für das Zulagenrecht.[1] Ein ähnlicher oder genau übereinstimmender Begriff ist auch in anderen Rechtsbereichen zu finden. So stimmt § 30 Abs. 3 S. 1 SGB I für den weiten Bereich des Sozialrechts wörtlich mit § 8 AO überein. Der steuerliche Wohnsitzbegriff unterscheidet sich demgegenüber vom Wohnsitzbegriff des BGB[2], der in weiten Bereichen des deutschen Rechts gilt[3] und auf den rechtsgeschäftlichen Willen des Inhabers abstellt (sog. Domizilwille).[4] Diese Zweiteilung in zwei Wohnsitzbegriffe im deutschen Recht ist schon auf die Zeit vor der Schaffung der RAO 1919 zurückzuführen. In dem einen Teil des Rechts wird (so im bürgerlichen Recht) auf den persönlichen Aufenthalt abgestellt, den jemand zum dauernden Lebensmittelpunkt macht, also auch auf einen Willensakt. Im anderen Bereich (so im Steuerrecht und Sozialrecht) ist das Vorhandensein einer Wohnung zur Beibehaltung und Nutzung, also eine tatsächliche Gestaltung hinsichtlich des Wohnens entscheidend. In § 12 MelderechtsrahmenG v. 16.8.1980[5] in der Neufassung v. 19.4.2002[6], geändert durch Gesetz v. 8.4.2013[7], hat der Gesetzgeber durch Schaffung der Begriffe der Hauptwohnung und der Nebenwohnung versucht, eine beide Bereiche vereinende Terminologie zu finden.

[4] Palandt/Ellenberger, BGB, 75. Aufl. 2016, § 7 BGB Rz. 7.
[5] BGBl I 1980, 1429.
[6] BGBl I 2002, 1342.
[7] BGBl I 2013, 730.

1.2 Tatsächliche Gestaltung

 

Rz. 2

Nach dem Wortlaut der Vorschrift ist nicht ein Willensakt, sondern die tatsächliche, wirtschaftliche Gestaltung der Verhältnisse entscheidend.[1] Die Verobjektivierung des Wohnsitzbegriffs sollte ursprünglich (bis zum Jahr 1945) verhindern, dass die durch Reichsfluchtsteuergesetz 1931 eingeführte Reichsfluchtsteuer bei Wegzug durch willentliche Beibehaltung des Wohnsitzes vermieden werden konnte.[2] Obwohl bereits in § 13 StAnpG wie jetzt in § 8 AO bewusst die ursprüngliche Formulierung der RAO ("eine Wohnung u. U. innehat, die auf die Absicht der Beibehaltung einer solchen schließen lassen") objektiver gefasst worden ist ("innehat u. U., die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und nutzen wird"), so sind die Absichten des Stpfl. dennoch nicht völlig ohne Belang.[3] Diese Absichten werden jedoch lediglich bei der Wertung der für den Wohnsitzbegriff entscheidenden Merkmale im Einzelfall herangezogen. Es muss sich um im steuerlichen Sinn objektivierte und nachprüfbare Voraussetzungen für das Innehaben einer Wohnung handeln.[4] Hierbei ist eine Prognoseentscheidung zu treffen.[5] Die persönlichen oder finanziellen Beweggründe für das fehlende "Innehaben" sind für die Frage des Wohnsitzes dagegen unerheblich.[6]

Da das Innehaben der Wohnung entscheidend ist, kommt der polizeilichen Anmeldung bzw. Abmeldung grundsätzlich keine Bedeutung zu.[7] Dies kann im Ausnahmefall anders zu sehen sein, wenn die einzelsteuerliche Vorschrift auf die Anmeldung abstellt, wie dies vielfach bei der Zweitwohnungssteuer der Fall ist.[8]

Bei Erfüllung der Voraussetzungen des § 8 AO ist auch ein entgegengesetzter rechtlicher oder natürlicher Wille des Stpfl. oder seines gesetzlichen Vertreters ohne Bedeutung.[9] Deswegen kann auch ein Minderjähriger steuerlich einen Wohnsitz begründen und aufgeben[10], während § 8 BGB dieses ausschließt.[11] Bei Eheleuten ist für jeden Ehepartner getrennt zu untersuchen, ob er einen Wohnsitz hat. Regelmäßig wird der Wohnsitz bzw. werden die Wohnsitze allerdings – ebenso wie bei minderjährigen Kindern – gemeinsam innegehabt.[12]

Die Entscheidung über das Bestehen eines Wohnsitzes ist nach den Verhältnissen des jeweiligen Veranlagungszeitraums zu treffen[13], bei der örtlichen Zuständigkeit von Finanzbehörden[14] nach der augenblicklichen Situation.

[1] BFH v. 10.11.1978, VI R 127/76, BStBl II 1979, 335; s. auch BFH v. 5.11.2001, VI B 219/00, BFH/NV 2002, 311; BFH v. 28.1.2004, I R 56/02, BFH/NV 2004, 917; Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 8 AO Rz. 2; Buciek, in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 8 AO Rz. 8.
[2] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, vor § 8 AO Rz. 2.
[3] Vogel/Waldhoff, in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 1 Rz. B 87: Wohnsitzdefinition nicht gänzlich frei von subjektiven Willenselementen; a. A. BFH v. 5.11.2001, VI B 219/00, BFH/NV 2002, 311; BFH v. 7.4.2011, III R 77/09, BFH/NV 2011, 1351; Kruse, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 8 AO Rz. 2: "notwendiges Element der Würdigung der Begleitumstände des Innehabens".

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