Rz. 22

Der Erlass des Haftungsbescheids und die Entscheidung der Frage, ob eine Inanspruchnahme für die volle Haftungsschuld geschehen soll, liegen im Ermessen der Finanzbehörde.[1] Eine Rechtspflicht zur Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners besteht nicht. Steuerschuldner und Haftungsschuldner sind Gesamtschuldner.[2] Grundsätzlich hat sich die Finanzbehörde zunächst an den Steuerschuldner zu halten, da der Haftungsschuldner nur für die Schuld des Steuerschuldners einzutreten hat. Das gilt, obwohl § 69 AO stets ein grobes Verschulden für die Pflichtwidrigkeit fordert. Eine Vorrangstellung für die Haftungsinanspruchnahme ("Vorprägung") kommt bei grober Fahrlässigkeit nach BFH v. 8.11.1988, VII R 141/85, BStBl II 1989, 219 grundsätzlich nicht in Betracht. Gegenüber dem nach § 75 AO Haftenden kann der Haftungsschuldner des § 69 AO allerdings vorrangig in Anspruch genommen werden, da § 75 AO kein Verschulden voraussetzt.[3] Ein Vorrang der Inanspruchnahme nach § 69 AO ist allerdings im Gesetz nicht vorgesehen und auch bei Vorsatz nicht zwingend. Haftende nach § 69 AO und § 75 AO können auch nebeneinander in Anspruch genommen werden.[4] Aber auch bei einer vorsätzlichen Pflichtverletzung ist die sofortige Inanspruchnahme des Haftenden ohne weitere Gründe und besondere Begründung nicht zulässig.[5] Aus § 219 S. 1 AO folgt darüber hinaus, dass im Einzelfall der Erlass eines Haftungsbescheids schon zu einer Zeit zulässig ist, zu der die Erfolglosigkeit der Inanspruchnahme des Steuerschuldners noch nicht feststeht. Ist Steuerschuldnerin eine wegen Vermögenslosigkeit im Handelsregister gelöschte GmbH gewesen, so hat das Finanzamt wegen des Fehlens eines Steuerschuldners den haftenden ehemaligen Geschäftsführer in Anspruch zu nehmen. Insoweit hat das FA keinen Ermessensspielraum mehr.[6]

 

Rz. 22a

Eine Ermessensentscheidung (Auswahlermessen) ist ebenfalls zu treffen, wenn mehrere Haftungsschuldner in Betracht kommen. Sind z. B. mehrere Geschäftsführer oder Vorstandsmitglieder zusammen oder einzeln vertretungsberechtigt, so ist für die Auswahl des Haftungsschuldners die interne Arbeitsteilung zu berücksichtigen.[7] Dies hat auf zwei Stufen zu geschehen: Zunächst ist vor der Ermessensentscheidung zu prüfen, ob die nach §§ 34 und 35 AO verpflichteten Personen überhaupt die Haftungsvoraussetzungen des § 69 AO erfüllen und wie weit der Haftungsumfang reicht (vgl. Rz. 17, 18). Gerade wegen der in dieser Vorschrift jetzt geforderten vorsätzlichen oder mindestens grob fahrlässigen Pflichtverletzung scheiden regelmäßig die nicht für den kaufmännischen und steuerlichen Bereich zuständigen Geschäftsführer und Vorstandsmitglieder bereits als Haftungsschuldner aus.[8] Dies ist durch die Gerichte voll nachprüfbar, weil ein Ermessensspielraum nicht besteht. Auf der zweiten Stufe ist die Ermessensentscheidung zu treffen, welcher von mehreren tatsächlich vorhandenen Haftungsschuldnern in Anspruch genommen werden soll. Dabei ist zu beachten, dass die unter § 35 fallenden Personen denjenigen nach § 34 AO nachgehen, da die Verpflichtungsvorschrift des § 35 AO als Ergänzungsregelung für Ergänzungstatbestände der Verpflichtungsvorschrift § 34 mit deren Tatbeständen nachsteht.[9] Hierbei wird die Finanzbehörde neben den Aussichten auf Realisierung der Haftungsansprüche auch die Umstände zu berücksichtigen haben, die zum "Erfolg" geführt haben. Das gilt insbesondere für die Art der Beteiligung des einzelnen Haftungsschuldners an diesem "Erfolg". Das gilt z. B., wenn nebeneinander ein früherer Geschäftsführer und der Nachfolgegeschäftsführer haften und für beide die gleiche Schuldform anzunehmen ist.[10]

Aber auch weitere Umstände des Einzelfalls sind bei der Ermessensentscheidung zu würdigen. Eine Haftungsbefugnis durch grobe Fahrlässigkeit ist z. B. anzunehmen, wenn ein GmbH-Geschäftsführer trotz Anlass, an der Abführung von Lohnabzugsbeträgen zu zweifeln, die Führung der Geschäfte durch einen anderen Geschäftsführer duldet, ohne durch nachhaltige Aufsichtsmaßnahmen sicher zu stellen, dass die steuerlichen Pflichten der GmbH erfüllt werden.[11] Durfte ein Mitgeschäftsführer an Hand konkreter Umstände davon ausgehen, dass der andere Mitgeschäftsführer seine Pflichten ausreichend und in einwandfreier Weise erfüllt, kann er geringere Anforderungen an seine Pflichterfüllung anstellen.[12] I. d. R. ist die Inanspruchnahme einer von zwei nach § 69 haftender GmbH-Geschäftsführern allein nach ihren Beteiligungsverhältnissen am Gesellschaftskapital nicht sachgerecht.[13] Dagegen soll die Tatsache der Schwangerschaft und Geburt eines Kindes durch eine Geschäftsführerin während des Haftungszeitraums zu berücksichtigen sein. Beim Vorhandensein mehrerer Haftungsschuldner, bei denen ein gleichartiges Verschulden in Betracht kommt, muss die Begründung auch ergeben, weswegen der eine Haftende, nicht dagegen der oder die anderen in Anspruch genommen werden.[14] Die Finanzbehörde handelt allerdings auch dann nicht ermessensfehlerhaft, wenn sie die Ausübung d...

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