Rz. 60

Nach § 42 Abs. 1 S. 3 AO entsteht der Steueranspruch beim Vorliegen eines Missbrauchs so, wie er bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung entsteht.

Was gegenständlich unter diesem Steueranspruch zu verstehen ist, hängt vom systematischen Verständnis der zur Missbrauchsabwehr bestimmten Rechtsfolgenkorrektur ab. Nach einer Ansicht legt § 42 Abs. 1 S. 3 AO der Besteuerung anstelle des tatsächlich verwirklichten einen gedachten Alternativsachverhalt zugrunde.[1] Nach anderer Ansicht "schleust" § 42 AO die unangemessene Gestaltung in den Anwendungsbereich der umgangenen Vorschrift.[2] Diese unterschiedlichen Sichtweisen sind keineswegs unerheblich[3], sondern können über den Umfang der sich aus § 42 Abs. 1 S. 3 AO ergebenden Rechtsfolgenkorrektur bestimmen.

Wird für Besteuerungszwecke ein anderer als der tatsächlich verwirklichte Sachverhalt fingiert, kann dies Auswirkungen auch außerhalb des Anwendungsbereichs der umgangenen Norm(en) haben. In diesem Fall sind in Bezug auf den von der umgangenen Norm abhängigen Steueranspruch zu Lasten wie zugunsten des Stpfl. alle steuerlichen Konsequenzen zu ziehen, die sich aus der Wahl der angemessenen Gestaltung ergeben hätten. Wird hingegen die Rechtsfolge der umgangenen Norm(en) auf einen nicht verwirklichten Sachverhalt erstreckt, beschränkt sich die Wirkung des § 42 AO darauf, dem Stpfl. den mit der unangemessenen Gestaltung bezweckten Steuervorteil zu verwehren.

 

Rz. 61

Die Rspr. des BFH geht einerseits zwar davon aus, dass § 42 AO für Besteuerungszwecke einen anderen als den tatsächlich verwirklichten Sachverhalt fingiert.[4] Andererseits hat der BFH verschiedentlich die Auffassung vertreten, dass sich die Reichweite dieser Fiktion nach den steuerlichen Folgen bestimme, die mit der gewählten Gestaltung hätten umgangen werden sollen[5] und ihre Wirkung daher auf die Vereitelung des konkret erstrebten Umgehungserfolgs beschränkt sei.[6]

Die mit § 42 AO bezweckte "Rechtsgeltung und die Durchsetzbarkeit des Regelungsinhaltes einer Norm aus eigener Kraft" werde dadurch erreicht, dass die vom Stpfl. angestrebte Anwendung des Gesetzes verweigert werde. Dies regele § 42 AO rechtsanwendungstechnisch in der Weise, dass – auf der Sachverhaltsebene – eine Gestaltung anzunehmen sei, die die Rechtsgeltung der einschlägigen Norm des Steuerrechts ermögliche. Die hiernach vorzunehmende Bewertung als "angemessen" beziehe ihre inhaltlichen Maßstäbe ausschließlich aus dem Steuergesetz, dessen Umgehung erfolglos versucht worden sei. Der Sache nach gehe es um einen analogischen Denkschluss, durch den die Norm in Beziehung zu dem Umgehungssachverhalt gesetzt und dieser der für einschlägig erachteten Norm unterworfen werde.[7]

 

Rz. 62

U. E. ist diese Sichtweise mit dem Gesetz nicht zu vereinbaren. Die darin angeordnete Rechtsfolge, dass "der Steueranspruch" wie bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen Gestaltung entsteht, bezieht sich auf den von der umgangenen Norm abhängigen Steueranspruch als Ganzes und nicht bloß auf einzelne Elemente. Wie sich aus der Missbrauchsdefinition in § 42 Abs. 2 AO ergibt, besteht der Umgehungserfolg, der durch Abs. 1 S. 3 vereitelt werden soll, in dem "gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil", zu dem die unangemessene Gestaltung führt. Dieser ergibt sich aber gerade aus dem Vergleich mit den steuerlichen Folgen, die die angemessene Gestaltung hat (s. Rz. 81). Damit müssen im Rahmen des Abs. 1 S. 3 auch die im Vergleich zu dem tatsächlich verwirklichten Sachverhalt günstigeren Rechtsfolgen berücksichtigt werden, die sich aus der angemessenen Gestaltung ergeben hätten. Anderenfalls wären die Wirkungen des § 42 Abs. 1 S. 3 AO nicht auf die Vereitelung des Umgehungserfolgs beschränkt, sondern kämen der Festsetzung einer Strafsteuer gleich. Diese Konsequenz lässt sich auch nicht mit der Erwägung rechtfertigen, dass die Fiktion einer Rechtsfolge anstelle eines Sachverhalts die Auswahl unter mehreren angemessenen Gestaltungen mit unterschiedlichen Besteuerungsfolgen erübrige und damit dem Grundsatz der Privatautonomie gerecht werde.[8]

 

Rz. 63

Der Begriff Steueranspruch umfasst daher in gegenständlicher Hinsicht alle Rechtsfolgen, die sich im Hinblick auf den von der umgangenen Norm abhängigen Steueranspruch aus der Ersetzung der tatsächlich gewählten durch die den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen Gestaltung ergeben. Dies hat z. B. zur Folge, dass ein Stpfl., dem der Abzug der Mietzinsen für eine von seinem minderjährigen Kind gemietete EDV-Anlage verwehrt wird, statt dessen die AfA als Betriebsausgabe abziehen kann, die sich bei der Zuordnung der Anlage zu seinem Betriebsvermögen ergeben hätten.[9]

Ebenso konnten Stpfl., denen der Abzug von Werbungskostenüberschüssen aus der wechselseitigen Vermietung gleichartiger Wohnungen verwehrt wurde, stattdessen die ihnen im Fall der Selbstnutzung der eigenen Wohnung zustehende Wohnungseigentumsförderung nach dem früheren § 10e EStG in Anspruch nehmen.[10]

Demgegenüber...

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